Tochter des Ratsherrn
dann drehte er sich einfach um. Heute war keine Zeit für so etwas. Gott würde dieses Weib an seiner Stelle für ihre Frechheit bestrafen. Er musste weiter.
Bald schon kam der Priester an ein paar Stände, die ihn an einem anderen Tag sehr viel mehr interessiert hätten als die mit den lebenden Hühnern. Backwaren, Wurst und Käse wurden dort neben allerlei Pasteten mit fremdländischen Gewürzen feilgeboten. Erst jetzt bemerkte er, wie hungrig er war. Doch auch das musste warten. Er hatte einen Auftrag zu erledigen, und das war sein einziges Ziel. Schließlich hatte er sich auf diesen Tag schon seit Langem vorbereitet. Nun war er beflügelt von dem Gefühl, in Gottes Namen zu handeln, und mit jedem Schritt, den er tat, umschloss seine Hand das hölzerne Kreuz um seinen Hals fester. Nichts konnte ihn mehr aufhalten. Er war bereit, ein großes Opfer zu bringen, um dem Teufel ein Schnippchen zu schlagen, doch er musste aufpassen und genau nach Plan handeln. Erwischte er den falschen Zeitpunkt oder wählte den falschen Ort, konnte alles umsonst gewesen sein.
Zunächst einmal musste er Ausschau nach Johanna halten. Mitten im Gemenge stellte er sich auf die Zehenspitzen und sah über die Köpfe hinweg. Sein Blick erfasste zig Hauben von zig Mägden, die für ihn alle gleich aussahen. Wie sollte er da eine bestimmte Magd entdecken? Schnell war ihm klar, dass es nur die eine Möglichkeit gab – Johanna musste ihn sehen können. Und so ließ er seinen Blick schweifen, bis ihm eine Stelle ins Auge fiel, die ihm dafür geeignet erschien.
»Schafft ihr es auch wirklich allein durch die Stadt?«, fragte Godeke die Frauen angespannt.
»Sei unbesorgt, wir werden es schaffen.« Ragnhilds Blick war entschlossen. Sie verstand es, ihre Angst geschickt hinter einem ernsten Ausdruck und einer tiefen Falte zwischen den Augen zu verbergen. In ihr sah es allerdings ganz anders aus. Schon jetzt war ihr Kleid vor Angstschweiß durchnässt. Ihr Herz raste, und ihr Atem ging stoßweise.
Ebenso erging es Runa, die wie erstarrt neben ihrer Mutter stand, und auch Marga und Margareta konnten ihre wahren Gefühle kaum mehr verbergen.
Die vier Frauen hatten sich ihre schlichtesten Gewänder angezogen und ihre Haare unter alten Schleiern verborgen.
Runa, die als Einzige keinen alten Schleier besaß, hatte stattdessen einen schneeweißen genommen und ihn so lange durch den Staub des Hofes gezogen, bis er grau und zerschlissen wirkte. Nun standen sie alle zusammen mit Freyja und Thymmo in der Diele. Sie waren zum Aufbruch bereit. Ihr abgerissenes Aussehen würde ihnen helfen, weniger im Gedränge des Kranfestes aufzufallen.
»Und denkt dran, Kinder«, ermahnte Runa Freyja und Thymmo mit erhobenem Zeigefinger. »Wenn ihr schön brav seid und erst dann wieder sprecht, wenn ich es euch erlaube, habe ich eine Überraschung für euch.«
Beide Kinder nickten eifrig. Ihre Wangen glühten vor Aufregung. Sie freuten sich mindestens genauso sehr auf das Fest wie auf die geheimnisvolle Überraschung, die ihre Mutter ihnen seit dem Morgen versprochen hatte. Artig hatten sie sich deshalb diese alten Kleider angezogen und sich nicht beklagt.
»Was ist mit Johanna und Agnes?«, fragte Walther mit leiser Stimme. »Wissen sie auch wirklich nicht Bescheid?«
»Nein«, antwortete Marga. »Ich habe sie hinausgeschickt, um Wäsche am Reichenstraßenfleet zu waschen. Sie werden noch eine Weile zu tun haben und erst einmal gar nicht bemerken, dass wir fort sind.« Die Magd dachte daran, wie sie alles Mögliche in die Laken ihrer Herrschaft geschmiert hatte, damit die beiden auch ja lange beschäftigt waren.
»Sehr gut«, schloss Walther. Dann wurde sein Blick ernst. »Hört mir nun gut zu. Der Pferdewagen steht gleich hinter dem Millerntor. Ich möchte, dass ihr direkt durch die Menge geht …«
»Was?«, unterbrach Runa ihren Mann erschrocken. »Wir sollen an all den Menschen vorbeigehen? Das ist doch verrückt, Walther. Warum treffen wir uns nicht hinter dem Spitalertor oder dem Steintor? Das wäre doch heute viel einfacher zu erreichen, und zudem wäre die Möglichkeit, gesehen zu werden, dort auch viel geringer, schließlich …«
»Schluss jetzt, Runa.« Walther schnitt seiner Frau mit einer unmissverständlichen Geste das Wort ab. »Ihr tut, was ich sage! Wir haben keine Zeit für solchen Unfug.« Als seine Frau verstummt war, sprach Walther weiter und erklärte seine Entscheidung. »Wenn ihr jetzt nach Osten lauft, obwohl sich die gesamte Stadt derzeit
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