Tochter des Ratsherrn
hatte Runa ihnen vorgeflunkert, dass sie heute mit ihnen auf das große Fest gehen würde, wenn sie bis dahin folgsam waren und alles taten, was sie von ihnen verlangte. Wie alle Familienmitglieder waren auch Freyja und Thymmo seit geraumer Zeit im Hause eingesperrt, weshalb sich Runa sicher war, dass die Kinder vor lauter Freude auf die unerwartete Abwechslung brav tun würden, was sie wünschte. Sie behielt recht. Ohne zu murren, zogen sie mehrere Lagen Kleider übereinander und verharrten daraufhin still mit Marga und Ragnhild in der Küche.
Margareta und Runa waren nach oben gegangen, um letzte Vorbereitungen zu treffen. Fahrig wühlten sie in der großen Truhe ihrer Mutter herum. Es musste genau überlegt werden, was sie von ihren Sachen brauchten. Sie alle hatten sich darauf geeinigt, nur so viel mitzunehmen, wie sie am Leibe tragen konnten, alles andere hätte unnötig Aufmerksamkeit erregt. Plötzlich stießen die Schwestern auf das grüne Kleid, welches Margareta eigentlich zu ihrer Hochzeit hatte tragen wollen. Bedächtig hoben sie es aus der Truhe und schauten es mit traurigen Augen an.
»Sieh es dir nur an, Runa. So viele Stunden habe ich daran gesessen. Es ist wundervoll geworden, und nun soll es niemals mehr seinen Zweck erfüllen.«
Runa spürte genau, wie sehr Margareta beim Anblick des Kleides litt. Wahrscheinlich war es sogar gut, dachte sie bei sich, dass es hierbleiben musste, dann würden die Gedanken an die abgesagte Hochzeit die Schwester nicht immerzu quälen. Während sie Margareta sanft über den Rücken strich, versicherte sie ihr tröstend: »Du wirst einen anderen Gemahl finden, ganz bestimmt. Und wenn er erst einmal vor dir steht, dann ist dein Kummer um Hereward schnell vergessen.«
Margareta rang sich ein schmales Lächeln ab. Sie war Runa dankbar für den Versuch, sie aufzuheitern, doch die Worte ihrer Schwester klangen für sie fast wie Hohn und Spott. »Ich werde keinen anderen Mann finden, Runa, und du weißt das. Niemand wird mich mehr nehmen – wahrscheinlich nicht einmal das Kloster der Blauen Schwestern. Also quäle mich bitte nicht, indem du versuchst, mir falsche Hoffnungen zu machen.«
Einen Moment lang war Runa sprachlos. So klare Worte war sie von der zurückhaltenden Margareta einfach nicht gewohnt. Umso deutlicher wurde ihr, wie unendlich verbittert sie sein musste. »Es … es tut mir leid. Ich wollte dich nicht verletzen … meine Worte waren ungeschickt.«
»Ich weiß, dass du mich nicht verletzen willst«, gab Margareta zurück. »Und dennoch schmerzt es mich, wenn alle in der Familie meinen, ich sei so töricht zu glauben, dass hinter dem nächsten Baum ein Edelmann steht, der es gar nicht erwarten kann, eine Verschmähte zu heiraten. Das wird nicht passieren. Schon gar nicht jetzt, da wir in der Stadt behandelt werden wie Aussätzige.«
Nun wusste Runa erst recht nichts mehr zu sagen. Sie musste sich eingestehen, dass sie tatsächlich gedacht hatte, Margareta mit falschen Beteuerungen beruhigen zu können. Doch ihre Schwester war nicht mehr das unbedarfte, kleine Kind, das sie einst gewesen war, sie ließ sich nicht mehr täuschen, und – was sicher das Schlimmste war – Margareta sprach die Wahrheit. Runa nahm sich vor, ab heute anders mit ihr zu verfahren. Keine Lügen, keine blumigen Worte und keine geschönten Reden mehr. Sie griff erneut in die Truhe und zog das bunte Brusttuch hervor, welches Hereward ihrer Schwester geschenkt hatte. Entschlossen drehte sie sich um und sagte: »Dieses hier solltest du auf jeden Fall mitnehmen.«
Margareta blickte Runa ernst an. Hatte sie denn nichts verstanden von dem, was sie ihr eben gesagt hatte? Doch bevor sie etwas entgegnen konnte, sprach ihre Schwester auch schon weiter.
»Du solltest es mitnehmen, weil es nicht wie dein Brautkleid nur eine Erinnerung an einen Tag ist, der nie stattfinden wird. Es ist ein Geschenk von einem Mann, der dich einst wollte und dich dennoch niemals bekommen wird, weil du viel zu gut für ihn bist. Eines Tages wird er es bitter bereuen, liebe Schwester. Vielleicht liegt dieser Tag noch in ganz weiter Ferne, aber wenn er kommt, dann wirst du es tragen – vor seinen Augen –, und dann weiß er, dass er einen Fehler gemacht hat!«
Margareta blickte auf das Tuch hinab. Sie hatte nicht vorgehabt, es mitzunehmen, obwohl sie es liebte. Zu viele traurige Erinnerungen hingen daran. Doch Runas Worte ließen sie plötzlich danach greifen. Ihre Schwester hatte nicht gesagt, sie solle es
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