Tochter des Ratsherrn
wollte er die noch Unentschlossenen endgültig überzeugen. »Wer unter euch jetzt denkt, das sei alles, was ich zum Beweis ihrer Schuld vorzuzeigen habe, der irrt gewaltig. Hier in meinem Beutel befindet sich eine Haarsträhne, welche die Magd Johanna der Hexe des Nachts abgeschnitten hat. Und nun seht her, was aus den blonden Haaren geworden ist!« Mit einer schnellen Bewegung griff Vater Everard in seine Tasche, umschloss die Strähne mit der Faust und reckte sie dann so weit in die Höhe, wie er nur konnte. Leuchtend rot wehte sie im leichten Sommerwind.
Nun war es gänzlich um die Beherrschung der Leute geschehen. Während die einen vor Entsetzen aufschrien, bekreuzigten sich andere gleich mehrfach. Manche fielen auf die Knie, andere waren den Tränen nahe. Es gab keinen Zweifel mehr: Rote Haare waren ein eindeutiges Zeichen – erst recht, wenn sie sich über Nacht verfärbten. Runa von Sandstedt war eine Hexe, das konnte gar nicht anders sein!
So schnell wie es die dicht gedrängten Leute um sie herum zuließen, schoben sich die Frauen noch dichter zusammen, bis sie eng beisammen standen. Ihnen allen brach der Angstschweiß aus. Zitternd pressten sie sich aneinander. Noch hatte niemand in der Masse ihnen Beachtung geschenkt, doch nur Gott allein wusste, ob das auch so blieb.
»Ich hole die Hexe jetzt aus ihrem Haus! Keinen weiteren Moment möchte ich noch damit warten. Sie wurde lange genug verschont!«, schrie ein aufgebrachter Mann in die Menge und zeigte in Richtung Reichenstraße. »Wer kommt mit mir?«
Sofort schlossen sich ihm weitere Männer an. Die Fäuste hoch erhoben drängten sie sich durch die Menschen, die versuchten, eine Gasse nach Osten zu öffnen. Die mutigen Recken wurden mit aufmunternden Rufen und Hieben auf die breiten Schultern gestärkt. Zahlreiche Männer und Frauen folgten ihnen, sei es um die Hexe selbst aus dem Haus zu ziehen oder um einfach nur zu gaffen.
Die Frauen schauten nicht auf, doch durch den Druck jener Leiber, die versuchten eine Gasse für die wütenden Bürger zu öffnen, konnten sie spüren, dass ihre Verfolger näher kamen. In ihrer grenzenlosen Furcht davor, sich womöglich doch durch eine unbedachte Geste zu verraten, hatten sie ganz vergessen, auf die kleine Freyja zu achten. Sie spürten nicht, wie das Mädchen an ihren Röcken zupfte und auf sich aufmerksam zu machen versuchte. Als die Beine um die Kleine herum immer dichter wurden, begann sie bitterlich zu weinen.
Erst jetzt wurde sich Margareta ihrer Verantwortung für Freyja wieder gewahr – doch es war zu spät!
Runa, die das Weinen ihrer Tochter unter Tausenden herausgehört hätte, fuhr erschrocken zu Margareta herum und zeigte so für einen winzigen Moment ihr Gesicht.
Alheid Salsnak stand direkt neben ihr. Die Blicke der beiden Frauen kreuzten sich für einen Atemzug und blieben aneinander haften. Einen kurzen Augenblick schien die Zeit stillzustehen. Stumm flehte Runa, dass Alheid schweigen möge. Ihre Lippen formten die Worte: Bitte nicht! , während sie fast unmerklich den Kopf schüttelte. Doch ihr Hoffen war vergeblich.
»Hiiiieeeer!«, schrie die reiche Bürgersfrau mit einem Mal aus vollem Halse und wies mit dem Finger auf Runa, als wäre sie ein ekelhafter Käfer. Dabei wich sie Schritt für Schritt zurück. Ganz offensichtlich hatte sie Angst vor Runas angeblichen Hexenkräften.
»Nein, nicht doch. Bitte nicht …«, entfuhr es Runa atemlos, doch da war es bereits geschehen.
Auch die Umstehenden waren nun auf Runa aufmerksam geworden und schrien ebenso laut wie Alheid Salsnak.
»Die Hexe!«
»Kommt hierher!«
»Hier ist sie!«
Nur wenige Augenblicke später hatte sich ein Kreis um die vier Frauen und zwei Kinder gebildet. Die Gesichter zu wütenden Fratzen verzerrt, die Fäuste geballt schlossen sich die Reihen immer dichter. Doch so mutig die Männer eben noch vorangestürmt waren, als es darum ging, Runa aus ihrem Haus zu zerren – beim Anblick der leibhaftigen Hexe blieben sie zögernd stehen.
»Das … das ist … ist ein Irrtum«, stammelte Runa in Todesangst. »Ich … ich bin keine Hexe.« Doch niemand schien ihr Glauben zu schenken. Sie presste sich mit dem Rücken gegen ihre Mutter und hielt die Hände ihrer beiden Kinder fest umschlossen. Selbst Thymmo begann jetzt zu weinen und gleich danach auch Margareta. Es war aussichtslos. Runa war verloren!
Dann plötzlich, als bereits alles besiegelt schien, ertönte eine laute Männerstimme. »Haltet ein! Sofort aufhören,
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