Tochter des Ratsherrn
ziehender Schmerz in seinen Oberschenkeln bemerkbar, der dem ungewohnten Übersteigen zahlreicher Hindernisse auf dem zugewachsenen Waldboden zu verdanken war.
Doch gleichwohl aller Beschwerlichkeiten waren Walthers Gedanken ganz woanders. Seit er Hamburg gestern verlassen hatte, schwirrten ihm immer wieder dieselben Fragen durch den Kopf. In einem fort grübelte er darüber nach, ob er das Richtige tat, nur um stets zum selben Schluss zu kommen: Es spielte keine Rolle, ob sein Handeln richtig oder falsch war – die Umstände hatten ihm keine andere Wahl gelassen.
Sicher würde es Runa und den Kindern eine Zeit lang schwerfallen, die Gründe für sein Verschwinden zu verstehen, doch schlussendlich war er sich sicher, dass ihrer aller Leben hinterher glücklicher verlaufen würde. Vor allem aber war er sich sicher, dass Runa ohne ihn glücklicher wäre – selbst wenn sie es niemals zugegeben hätte. Jetzt, da er fort war, musste sie sich nicht länger vor ihrem eigenen Ehemann verstellen, ihm nicht mehr ausweichen, wenn er sie küssen wollte, oder sich des Nachts schlafend stellen, wenn er sich ihr auf andere Weise näherte. Ja, alle würden glücklicher sein – alle, bis auf ihn!
Walther musste gegen seine Bitterkeit ankämpfen. Er hatte das Gefühl, versagt zu haben. Runa liebte Johann, und das würde sich niemals ändern. Obwohl er kurzzeitig geglaubt hatte, den Kampf um ihr Herz zu gewinnen, war es doch anders gekommen. Dabei waren sie einander für eine kurze Zeit so vertraut gewesen! Doch die Begegnung mit Johann in seinem Pferdewagen hatte offensichtlich ausgereicht, um Runas ohnehin nie ganz versiegte Liebe aufs Neue zu entfachen. Walther hatte es gleich gespürt, und seine Tochter hatte den Beweis dazu geliefert, indem sie Runas Lüge am Tisch in der Stube offenbart hatte.
Was für ein schmerzlicher Irrtum zu glauben, seine Frau habe den Ratsnotar vergessen! Das Gegenteil war der Fall: Nach und nach war ihre Ehe den lodernden Flammen jener verbotenen Liebe zum Opfer gefallen. Und gestern, als er durchs Millerntor gegangen war, hatte Walther seine unsterbliche Liebe zu ihr endgültig begraben.
Es war genug. Walther konnte nicht mehr. Viele Jahre war ihm keine Mühe zu viel gewesen, um sich ihre Liebe zu verdienen, aber mittlerweile wusste er, dass es hoffnungslos war. Ihr Herz war ihm gegenüber so verschlossen wie die Stadtkiste mit ihren drei Schlössern.
Doch sosehr er auch mit Runas fehlender Liebe haderte – Walther wusste, dass nicht nur sie die Schuld an diesem Ende trug. Auch er hatte sein Wort nicht halten können, denn obwohl er ihr damals vor der Hochzeit versprochen hatte, das Kind in ihr zu lieben wie sein eigenes, war ihm das nie gelungen.
Thymmo war wie ein Stachel in seinem Fleische – ewige Erinnerung an einen anderen Mann und gleichzeitig Hohn und Spott für Walthers unendliche Liebe zu Runa. Mit den Jahren war es sogar eher schlimmer als besser geworden. Der Junge litt zusehends unter dieser Ablehnung, und Walther sah sich außerstande, etwas daran zu ändern. Er wollte nicht, dass Thymmo unglücklich war. Das Kind konnte nichts dafür. Nicht zuletzt aus diesem Grund beschäftigte ihn der Gedanke zu gehen schon seit längerer Zeit.
Er hatte sich die Entscheidung nicht leicht gemacht und war bis vor nicht allzu langer Zeit nicht einmal sicher gewesen, ob er es schaffen würde, Runa tatsächlich zu verlassen. Stets hatte er auf die rechte Gelegenheit gewartet – wohlwissend, dass sich eine solche so gut wie nie ergeben würde. Es war sein eigenes, geheimes Glücksspiel gewesen, denn er wollte diesen folgenschweren Schritt eigentlich nicht gehen. Dann aber hatte ihm das Schicksal plötzlich eine Tür geöffnet und ihm völlig unerwartet die Aussicht auf ein neues Leben geboten. Walther hatte sofort gewusst, dass er diese Gelegenheit ergreifen musste, bevor sich die Türe wieder schloss. Dies war das Zeichen, um das er gebeten hatte. Nun durfte er es nicht als einen Zufall abtun. Eine solche Möglichkeit gab es nur einmal im Leben, und sie kam ihm mehr als gelegen. Er war bereit!
Der Brief, den der gräfliche Bote ihm an seiner Haustür überreichte, enthielt eine so unwirkliche Bitte, dass Walther zunächst gewillt war, ihn als einen üblen Scherz abzutun. Doch als er das Siegel der Schauenburger sah, wusste er, dass das Schreiben echt war. Gräfin Margarete bat tatsächlich ihn, den singenden Nuncius Walther von Sandstedt, zu sich auf die Burg Kiel, um für ihren Gemahl Johann
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