Tochter des Ratsherrn
du mich fragst, so denke ich, sie sind geflüchtet, nachdem sie gesehen haben, was mit Leuten wie ihnen geschieht. Finde dich besser damit ab, Magd. Nun bin ich der Herr in diesem Hause.« Kalt blickte er in Agnes’ erschrockenes Gesicht. Ihr Blick wurde starr, und ihre Unterlippe begann zu zittern. Angewidert stellte Vater Everard fest, dass sie gleich anfangen würde zu heulen. Nur wenige Dinge verwirrten ihn so wie das schrille Geheule von Frauen, darum zeigte er geschwind auf ihre Hände, die etwas umschlossen hielten. »Was hast du da?«
»Ich … ich habe es auf der Truhe in der Diele gefunden. Es ist ein Brief.«
»Das sehe ich, du dummes Ding. Gib ihn her.«
Agnes tat, was er verlangte, und händigte Vater Everard das Pergament aus. Sie selbst hatte den Brief natürlich nicht lesen können. Nun hoffte sie, der Geistliche würde ihr erzählen, was darin stand. Sie fühlte, dass in diesem Brief einige Antworten zu finden waren. Doch ihre Hoffnungen wurden enttäuscht.
»Geh und mach mir etwas zu essen.«
Agnes wusste, dass es besser wäre, seinen Befehl stumm zu befolgen, doch sie konnte einfach nicht gehen, ohne ihm eine bestimmte Frage gestellt zu haben. »Vater, was wird nun aus mir?«
Der Geistliche hob den Blick, den er bereits auf die ersten Zeilen des Briefes gerichtet hatte. Zunächst wollte er sie grob anfahren, weil sie ihn fortwährend mit Fragen löcherte, obwohl sie nur dann zu sprechen hatte, wenn er sie etwas fragte. Doch dann ließ er den Brief sinken und machte ein paar Schritte auf sie zu, trat dicht vor sie und blickte ihr ins Gesicht. Zum ersten Mal bemerkte er ihren roten Mund und die weiße Haut ihres Halses. Seine Augen glitten tiefer bis zu ihren kleinen, straffen Brüsten, welche eng von dem Stoff ihres Kleides überspannt wurden. Sein Ausdruck bekam etwas Lüsternes, als er sah, wie sich ihr Busen beim Atmen hob und senkte, sein Mund öffnete sich leicht. Dann riss er den Blick ruckartig los und schaute der Magd wieder in die Augen. »Du kannst bleiben und mir dienen«, bestimmte er kurz entschlossen. Jetzt, da Johanna scheinbar wie vom Erdboden verschluckt war, brauchte er ohnehin eine andere Magd. Warum sollte er nicht gleich diese behalten? »Doch wenn du mir nicht gehorchst, dann werfe ich dich aus dem Haus, hast du verstanden?«, fügte er drohend hinzu.
Agnes’ Mund war staubtrocken. Sie mochte sich gar nicht ausdenken, was genau er mit gehorchen meinte, doch es gab niemanden sonst, zu dem sie hätte gehen können. Sie hatte keine Familie. Und nun, da alle von Holdenstedes und alle von Sandstedts wie vom Winde verweht waren, blieb ihr erst recht keine Wahl. Darum knickste sie artig, bevor sie hinausging, und sagte mit schwerem Herzen: »Ich danke Euch, Vater.«
Als Vater Everard wieder allein in seiner Kammer war, widmete er sich dem Brief, der, wie seine scharfen Augen sogleich erkannt hatten, von Walther an Godeke gerichtet war. Schon nach wenigen Zeilen eröffnete sich ihm der hoch bedeutsame Inhalt.
Mein lieber Freund und Schwager Godeke,
wenn du diesen Brief findest, bin ich bereits nicht mehr in Hamburg. Ich hatte den Pferdewagen heimlich verlassen, als du den Frauen und Kindern entgegengelaufen bist, denn ich war mir sicher, dass du es allein schaffen würdest, sie alle in Sicherheit zu bringen. Meine Gedanken sind nun erfüllt von dem Hoffen, dass es ihnen dort, wo sie jetzt sind, gut ergehen wird, denn sie können nicht mehr in ihr Haus zurück. Um ihnen Leid und Kummer zu ersparen, habe ich ihnen mit Absicht verschwiegen, dass Graf Gerhard II. tatsächlich in unseren Vorschlag eingewilligt hat und somit bereit ist, Albert gegen sein Haus aus dem Einlager freizulassen. Den Brief des Grafen habe ich da versteckt, wo wir es stets beliebt haben, unsere geheimen Briefe zu verstecken. Nimm ihn an dich, und befreie Albert aus der Riepenburg. Godeke, ich weiß, dass du mir sehr wahrscheinlich niemals wirst verzeihen können, dass ich euch und vor allem deine geliebte Schwester auf diese unehrenhafte Weise verlassen habe, doch ich konnte nicht anders. Bitte versuche nicht mich zu finden, denn ich komme nicht mehr zurück. Verzeihe auch, dass ich dir meine Gründe dafür nicht nennen kann. Alles ist anders gekommen, als ich es mir gewünscht habe, doch nun, wo Albert freikommen wird und die Frauen und Kinder in Sicherheit sind, könnt ihr irgendwo anders ein neues Leben beginnen. Runa wird es ohne mich besser gehen. Pass auf meine Kinder auf, und sage ihnen eines
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