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Tochter des Ratsherrn

Tochter des Ratsherrn

Titel: Tochter des Ratsherrn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Tan
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Waffen auch zu benutzen. Doch die Hexen blieben verschwunden. Gegen Abend wurden einige der Verfolger ihrer Suche müde und ließen davon ab, um wieder ihren eigenen Verpflichtungen nachzugehen. Für andere jedoch war das Verschwinden der gesuchten Frauen ein eindeutiger Beweis: Mit Sicherheit hatten die Weiber mittels ihrer Hexenkräfte eine andere Gestalt angenommen oder waren einfach davongeflogen. Je länger sie nach ihnen suchten, desto wilder wurden ihre Vermutungen. Irgendwann meldeten sich die ersten Augenzeugen zu Wort. Schwarze Punkte wollten sie am Himmel gesehen haben, schnell wie der Wind, begleitet von einem schrillen, dämonischen Lachen. Sie hatten es ja schon immer gewusst: Die Frauen der Familie von Holdenstede waren Hexen!
    Vater Everard hätte nicht zufriedener sein können. Er wusste, dass er der Stadt einen großen Dienst erwiesen hatte. Im Gegensatz zu den aufgebrachten Hamburgern war er vollkommen zufrieden mit dem unerklärlichen Verschwinden Ragnhilds, Margas und Margaretas – eine Hexe in der Stadt war ihm mehr als genug.
    Erschöpft von den wochenlangen Beobachtungen und den nächtelangen Gebeten, in denen er Gott um Kraft und Unterstützung angefleht hatte, war er in das Haus in der Reichenstraße zurückgekehrt. Wie selbstverständlich nahm er nun das größte Schlafgemach des Hausherrn in Anspruch und legte sich der Breite nach in die weichen Laken. So fiel er augenblicklich in einen tiefen Schlaf, aus dem er erst spät am nächsten Tag wieder erwachte. Als er die Augen öffnete, wusste er zunächst nicht recht, wo er sich befand. Nur langsam kehrten seine Erinnerungen zurück. Dann breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. Er hatte es tatsächlich geschafft. Die Hexe Runa war enttarnt. Gott hatte ihm diesen Auftrag erteilt, und er hatte ihn ausgeführt. Diese Tat würde ihn ein gutes Stück näher ans Himmelreich heranbringen. Auch wenn fragwürdige Mittel wie das Färben einer Haarsträhne vonnöten gewesen waren, um die gewöhnlichen Bürger von Runas Missetaten zu überzeugen, war sich Everard sicher, dass Gott sein Handeln mit Wohlwollen betrachtete. Dieser Auftrag war der Grund für seine Reise von Friesland nach Hamburg gewesen – jetzt machte alles einen Sinn!
    Plötzlich kam ihm die Magd Johanna in den Sinn, und gleich darauf fiel ihm auch der Moment auf der Trostbrücke wieder ein – sie hatte gesprochen! Es war ein Wunder gewesen! Und natürlich ein weiteres Zeichen für Gottes Zustimmung. Aber wo war sie jetzt? Als man die Hexe Runa in der Menge auf dem Kranfest aufgespürt hatte, hatte sie sich unbemerkt aus dem Staub gemacht. Er hatte nicht weiter darauf geachtet; hatte es doch Wichtigeres in dem Moment gegeben, das seine Aufmerksamkeit gefordert hatte.
    Everard vermutete, dass sie nun unten in der Küche saß und darauf hoffte, dass er sie als Magd behalten wollte. Ja, er würde sie behalten, schließlich hatte Gott ein Wunder an ihr vollbracht, und eine solche Magd passte ganz hervorragend zu ihm, der er nun ein Held war. Die verkrüppelte Agnes dagegen konnte er nicht mehr gebrauchen. Auch wenn er Johanna versprochen hatte, sie nicht ebenfalls als Hexe anzuklagen, musste er sie ja noch lange nicht in seinem Haus durchfüttern!
    Der Geistliche erhob sich vom Bett und ordnete soeben seine Kleider, als es zaghaft an der Tür klopfte. »Wer da?«
    Die Tür öffnete sich, und herein kam Agnes.
    Sichtlich erstaunt blickte der Geistliche auf die Magd. »Was willst du?«
    »Vater, ich hörte, dass Ihr aufgewacht seid«, antwortete Agnes.
    »Und? Wo ist Johanna?«, fragte er unfreundlich.
    »Ich hatte gehofft, Ihr würdet es wissen, Vater.«
    »Was soll das heißen?«
    »Sie ist nicht mehr hierher zurückgekehrt, seit sie am Tage des Kranfestes das Haus verlassen hat.«
    Vater Everard war für einen kurzen Moment verwirrt. Wo steckte diese Magd denn nur? Sie würde es doch wohl nicht wagen, ihn und seine Methoden zu verraten, jetzt, da sie sprechen konnte? Unsinn, schloss er und schüttelte den Kopf. Wer würde ihr schon glauben? Das Wort einer einfältigen Magd gegen das eines Kirchenmannes?
    »Vater? Bitte, könnt Ihr mir vielleicht sagen, wo die Herrschaften sind? Domina Ragnhild, die Dame Margareta und Marga? Wo sind die Kinder?« Ihr Ton hatte etwas Flehentliches. Verwirrt fragte der Geistliche sich, ob es tatsächlich sein konnte, dass diese Magd als Einzige in Hamburg keine Ahnung hatte.
    »Sie scheinen alle fort zu sein«, antwortete er gleichgültig. »Wenn

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