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Tochter des Ratsherrn

Tochter des Ratsherrn

Titel: Tochter des Ratsherrn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Tan
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II. als Spielmann am Hofe zu dienen. Walther sollte für ihn singen und so zu seiner Erheiterung und schnelleren Genesung beitragen. Man würde ihm eine Kammer auf der Burg stellen und ihn für die Zeit seines Aufenthalts verköstigen. Es sollte ihm an nichts mangeln, wenn er denn nur sofort aufbrach.
    Alles passte plötzlich zusammen. Nur wenige Tage zuvor war die Antwort von Graf Gerhard II. gekommen, in der der Fürst einwilligte, Albert im Tausch gegen das Kaufmannshaus aus dem Einlager freizulassen. Fast zeitgleich hatte Ragnhild ihm eröffnet, dass sie und die Frauen nach Eppendorf zu Hildegard von Horborg reisen würden. Walther wusste also, dass sein Freund Albert und seine Familie in Sicherheit sein würden, wenn er ging. Vor allem aber wusste er, dass sie weit weg waren, wenn man ihnen alles nahm. Nach Alberts Haus würden sie auch Walthers Haus verlieren, da es derzeit einfach unmöglich schien, die geforderte Brautgabe an Hereward von Rokesberghe zurückzuzahlen. Alles, was es noch zu tun galt, bevor das Schicksal unaufhaltsam seinen Lauf nahm, war, dafür zu sorgen, dass seine Lieben sicher in ihr neues Leben gelangten. Dafür hatte Walther am Tage des Kranfestes gesorgt, indem er die Frauen durch die Stadt zum Pferdewagen hatte laufen lassen, mit dem Godeke sie in Sicherheit bringen würde. Dann war seine Zeit gekommen, sich für immer von ihnen zu trennen.
    Nun lag es vor ihm, das neue Leben als Spielmann, welches seit jeher sein Traum gewesen war und – neben Runa – seine zweite große Liebe. Jetzt, da klar war, dass er seine erste große Liebe niemals würde halten können, würde er gehen und das Zweitliebste in seinem Leben tun.
    Als der Bote ihn nach seiner Antwort fragte, nickte Walther so voller Überzeugung, dass der Junge sich nur knapp verbeugte und sogleich davonrannte, um seiner Herrin zu berichten.
    Nun stapfte Walther, seinen Gedanken nachhängend, den unwegsamen Pfad entlang und fasste zum unzähligen Male unter sein Wams, um sich zu vergewissern, dass der Brief der Gräfin noch da war. Gleich darauf jedoch musste er seinen Arm wieder zu Hilfe nehmen, um die dichten Sträucher und Äste von seinem Gesicht fernzuhalten. Er schwitzte und ächzte. Irgendwann musste dieser verdammte Wald doch mal ein Ende haben, fluchte er innerlich, während er sich geduckt einen Weg durchs Unterholz bahnte.
    Erst eine Stunde später erreichte er eine Stelle, wo es ihm seit langer Zeit das erste Mal wieder möglich war, sich voll aufzurichten. Vor ihm erstreckte sich plötzlich eine leuchtend grüne Wiese. Walther atmete auf. Was für ein Anblick! Weit und breit war kein dichter Wald mehr zu sehen. Nur einzelne Baumgruppen standen auf sanft geschwungenen Hügeln, die mit gelben und weißen Blüten übersät waren. Dies war der richtige Ort für eine Rast, entschied Walther und ging quer über das weiche Gras geradewegs auf die zwei höchsten Eichen zu, welche inmitten der Wiese nur eine Mannslänge voneinander entfernt standen.
    Müde setzte er sich zwischen ihre Stämme und lehnte seinen Rücken an einen davon. Unter den Bäumen war es trocken. Was für ein herrlicher Fleck, um seine gepeinigten Glieder auszuruhen! Einzig sein Kopf kam nicht zur Ruhe.
    Vor seinen geschlossenen Augen erschienen unaufhörlich Bilder des Kranfestes. Am Morgen des Festtages hatte er seine Lieben das letzte Mal gesehen. Noch einmal spielte er die Ereignisse jenes Tages in seinen Gedanken ab. Er hörte wieder die Musik in seinen Ohren und spürte das Gedränge zwischen den Ständen und Schrangen. Godeke und er hatten sich mühevoll durch die Stadt gekämpft und waren schließlich am Pferdewagen des Bauern hinter dem Millerntor angekommen.
    Als Godeke entschied, den Frauen entgegenzulaufen, war Walthers Moment gekommen. Schon Tage zuvor hatte er gewusst, dass das Kranfest die richtige Gelegenheit für seinen Abschied bot. Mit einem letzten Blick auf das steinerne Millerntor, durch das sein Schwager zuvor verschwunden war, hatte er seinem alten Leben den Rücken gekehrt. Schnellen Schrittes war er davonmarschiert. Entgegen seiner Befürchtungen war alles ganz einfach gegangen – bis jetzt!
    Während er hier unter den Eichen lag, formten seine Erinnerungen unerbittlich die Gesichter seiner Vergangenheit. Walther fragte sich, ob Runa wohl bemerkt hatte, dass er sich im Haus in der Reichenstraße für immer von ihr hatte verabschieden wollen. Ob sie ihn vermisste, wenn sie erst begriff, dass er wirklich nie mehr zurückkehren

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