Tochter des Ratsherrn
Pfades einnahm. Fahrig zog er sich das lange Ende des zweiten Zügels durch die Hand. Dann setzte er das Messer an – Schnitt. Es war getan. Nun nichts wie weg hier!, dachte Godeke mit pochendem Herzen und griff das Pferd am Zaumzeug, doch es war zu spät.
Ganz plötzlich und vollkommen lautlos tauchte eine geisterhafte Gestalt vor ihm auf.
Godeke packte die nackte Angst. Einer ersten Eingebung folgend wollte er sein Messer als Stichwaffe benutzen, doch im letzten Moment erkannte er, wer dort vor ihm stand.
»Godeke«, flüsterte die unheimliche Gestalt.
Der Angesprochene traute seinen Augen kaum. Die Faust mit dem Messer darin noch immer zum Angriff erhoben, stand er unbewegt da und blickte in das altvertraute Gesicht.
Sein Zögern sollte seinen Untergang bedeuten. Während er wie gelähmt vor Erstaunen über diese unerwartete Begegnung verharrte, schlich sich das Übel von hinten an. Ein dumpfer Schlag ertönte, Godekes Knie knickten ein und sackten neben dem Wagen in den Schlamm. Dann schlug sein Oberkörper der Länge nach auf den Boden auf.
Johannes hätte der Stadt schon früher den Rücken kehren müssen. Seit dem Kranfest war es hier viel zu gefährlich für ihn. Sein liebendes Herz jedoch hielt ihn noch immer zurück. Er wusste, wenn er Hamburg verließ, dann würde er auch Agnes verlassen, und es gäbe keinen entschuldbaren Grund mehr zurückzukehren. Agnes und er würden sich nie wiedersehen.
Er versuchte die Entscheidung hinauszuzögern, versteckte sich in dunklen Winkeln und Ecken, schlich immer wieder unentschlossen zwischen dem Markt und der Reichenstraße hin und her. Seine Hoffnung, die Magd noch einmal zu Gesicht zu bekommen, war nach wie vor ungebrochen.
Doch was sollte er tun, wenn er sie tatsächlich entdeckte? Er konnte schließlich nicht einfach zu ihr laufen und sie ansprechen – nicht nach allem, was passiert war, und nicht so, wie er nun aussah: wie ein junger Mann!
Nach der Anprangerung Runas durch Vater Everard war Johannes sofort in das Haus in der Reichenstraße geeilt. Nicht in das von Ragnhild und Albert – dort war schließlich Agnes und wusch noch immer die Wäsche –, sondern in das von Runa und Walther. So schnell er konnte, hatte er sich das grobe Magdgewand und die Haube vom Leibe gerissen und war in eine Bruche, ein paar Beinlinge, ein Hemd und eine Cotte von Walther geschlüpft. Mit einem Messer hatte er sich die langen Haare abgeschnitten und sie ins Feuer geworfen. Er war wieder Johannes, und Johanna würde es nie mehr geben! Einen Lidschlag lang hatte er in die Flammen gestarrt und zugesehen, wie sich seine helle Haarpracht in der Hitze kräuselte. Es war ihm, als ob dort im Kamin ein Teil seines Lebens verbrannte.
Schließlich hatte er sich vom Feuer, dem Haus, dem alten Leben losgerissen und irrte seither ziellos in der Stadt umher. Nach all den Wochen als Frau war es seltsam für Johannes, ohne Haube herumzulaufen. Auf eine merkwürdige Art und Weise fühlte er sich schutzlos. Ihm war, als starrten ihn die Leute fortwährend an. Immer wieder wendete er das Gesicht ab, wie es züchtige Frauen eben taten, um kein Aufsehen zu erregen, und ständig musste er sich ermahnen, nicht wie ein Weib zu gehen. Die Rolle der Magd Johanna war ihm ins Blut übergegangen. Es fiel Johannes schwer, sie abzulegen, doch es musste sein. Sein Auftrag war erfüllt, es gab nichts mehr für ihn zu tun. Johannes fühlte sich eigenartig nutzlos. Er wollte nicht zurück in den Wald, wo nichts auf ihn wartete als der grobe Bodo, ihr Gefangener Thiderich und seine Mutter. Doch ein anderer Ort, an dem er willkommen wäre, fiel ihm nicht ein.
Der anfängliche Stolz darüber, dass er die monatelang geplante Aufgabe erfolgreich ausgeführt hatte, verflog wie der Wind. Zurück blieben nichts als Zweifel und Reue. Ja, er bereute seine Lügen zutiefst, und er verfluchte den Tag, an dem er als Johanna bei Runa aufgetaucht war. Nicht etwa weil er seine eigene Schwester ins Verlies gebracht hatte – nein, Runa war ihm egal –, es war wegen Agnes!
Wenn er sich heute neu entscheiden könnte, dann würde er das Geschehene am liebsten ungeschehen machen, denn Johannes liebte Agnes so sehr, dass er sich schmerzlich wünschte, sie hätte ihn nie als Johanna kennengelernt. Nun machten es ihm seine eigenen Lügen unmöglich, ihr jemals näherzukommen. Niemals würde er um ihre Hand anhalten können, obwohl es das war, was er sich am meisten auf der Welt wünschte. Wenn es die Aussicht auf ein Ja von
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