Tochter des Ratsherrn
Gesicht. »Ihr könnt unbefangen sprechen, mein Bruder. Wollen wir nicht beide die Gottlosigkeit in dieser Stadt bekämpfen? Haben wir nicht ein gemeinsames Ziel, nämlich jene zu bestrafen, die Gottes Wort missachten? Hier und jetzt sind wir unter uns. Niemand kann uns hören, also sagt nur frei heraus, was Euch auf dem Herzen liegt. Um der Liebe Christi willen, erleichtert Eure Seele.«
Nach diesen Worten wurde der Blick des Priesters wieder offener. Augenscheinlich gefiel ihm die Vorstellung, dass der ehrenwerte Ratsnotar und Domherr Johann Schinkel sich mit ihm gleichstellte. »Nun gut, Ihr habt recht. Euch kann ich mich anvertrauen, schließlich eint uns tatsächlich dieselbe Sache. Hier, lest das«, forderte er Johann auf und schob Walthers Brief an Godeke zu ihm hinüber.
Johann versuchte vergeblich, seine Aufregung zu bekämpfen, als er das Pergament vor sich liegen sah. Was hatte das zu bedeuten? Bereits nachdem er die ersten Zeilen überflogen hatte, sah er auf und fragte in ungläubigem Ton: »Sie hatten tatsächlich geplant, schon vor der Verhaftung der Hexe Hamburg zu verlassen?«
»Es sieht ganz so aus.«
»Habt Ihr davon gewusst?«
»Natürlich nicht.«
»Aber wo sind sie alle hin?«
»Das weiß ich auch nicht. Der Brief gibt keinerlei Hinweis darauf.«
Johann ließ sich gegen die Sessellehne fallen und heftete den Blick erneut auf die Zeilen. Das alles kam für ihn so unerwartet, dass es ihm schwerfiel, sich zu konzentrieren. Doch als er den Brief ein zweites Mal durchlas, fiel ihm etwas auf, das anscheinend auch Vater Everard bereits bemerkt hatte. Scheinbar hatte sein Blick ihn verraten, denn der Priester sagte: »Ja, ja, ganz recht. Albert von Holdenstede könnte schon bald wieder in Hamburg auftauchen.«
»Das ist wohl möglich«, pflichtete Johann ihm bei und dachte bei sich, was für ein überaus kluger Zug es von seinem Nuncius gewesen war, dem Grafen das Haus Alberts von Holdenstede anzubieten, um dessen Schuldsumme zu begleichen. »Sagt mir, habt Ihr den erwähnten Brief des Fürsten schon gefunden?«
»Nein, bedauerlicherweise nicht. Dieser Walther von Sandstedt spricht von einem Versteck, welches mir unbekannt ist.«
»Zu schade«, sagte Johann mit ehrlichem Bedauern, stützte das Kinn auf seine Hand und dachte nach. Die Situation hatte sich schlagartig geändert. Eigentlich hatte Johann bloß herausfinden wollen, was genau der fremde Priester Runa vorwarf, und nun gab es da plötzlich diesen geheimnisvollen Brief und das Verschwinden einer ganzen Familie. Johanns Gedanken wirbelten durch seinen Kopf. Was sollte er nun tun? Er hasste es, sich zu verstellen, und zudem war er auch nicht besonders gut darin. Dieses Gespräch forderte wirklich seine ganze Konzentration und all seine spärlichen Verstellungskünste. Kurzerhand entschied er, dass er Walther von Sandstedts Schreiben unbedingt in seinen Besitz bringen musste, bevor der Geistliche es womöglich vernichtete. Im Augenblick war dieses Papier nämlich der einzige Beweis dafür, dass Graf Gerhard II. bereit war, Albert aus dem Einlager zu entlassen. Und so wie es aussah, war Albert der Einzige aus Runas Familie, dessen Aufenthaltsort bekannt war. Also wandte sich Johann mit listigem Blick an Vater Everard. »Wenn mich nicht alles täuscht, würdet Ihr gern verhindern, dass Albert von Holdenstede nach Hamburg zurückkehrt, richtig?«
»Wie kommt Ihr darauf?«, fragte der Geistliche misstrauisch zurück.
»Nun, das ist nicht schwer zu erraten. Ich kann mir vorstellen, dass es sich hier doch ganz behaglich wohnen lässt, nicht wahr?« Während Johann sprach, ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen. »Doch wo wollt Ihr bleiben, wenn die Sippe der von Holdenstedes nach und nach zurückkehrt? Ihr würdet dieses Haus mit Sicherheit verlieren, schließlich habt Ihr die Tochter Alberts von Holdenstede ins Verlies gebracht.«
Everard nickte, wenngleich ihm das Verhalten des Ratsnotars Rätsel aufgab. »Bitte verzeiht meine Ungeduld, doch worauf wollt Ihr eigentlich hinaus?«
»Das kann ich Euch sagen: Gebt mir den Brief von Walther von Sandstedt. Ich werde ihn in meiner Kurie unter Verschluss halten, wo er sicher ist.«
»Sicher wovor?«, fragte Everard argwöhnisch. »Ist er hier nicht ebenso gut aufgehoben wie bei Euch?«
»Wohl kaum. Denkt doch mal nach, Bruder. Es ist Euch nicht gelungen, die Überschreibungsurkunde selbst ausfindig zu machen, richtig?«
»Stimmt genau.«
»Jetzt muss dafür gesorgt werden, dass auch
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