Tochter des Ratsherrn
erwartet hatte Luburgis die Seile nur leicht um seine Gelenke gelegt. Nach wenigen Augenblicken hatte er sich befreit und hob triumphierend die Hände. »Vielen Dank für die lockeren Knoten, Stiefmutter.«
Thiderich entfuhr ein ungläubiger Laut. »Ha, ich fasse es nicht. Du bist frei!« Nach der langen Zeit seiner Gefangenschaft war auch seine Freiheit nun erstmals zum Greifen nahe. Während Godeke zu ihm geeilt kam, um auch ihn loszubinden, fragte Thiderich: »Kannst du mir vielleicht erklären, wie du ausgerechnet an diesen verlassenen Ort gekommen bist? Was um alles auf der Welt ist passiert?«
»Sie haben mir im Wald aufgelauert und mich dann überwältigt. Der Schlag dieses Hünen hätte mir fast den Kopf abgerissen. Mehr weiß ich auch nicht.«
»Bei mir war es ähnlich. Nur haben sie bei mir wahrlich reiche Beute gemacht. Als ich aufwachte, waren Alberts Münzen für Graf Gerhard II. fort. Gott allein weiß, wo das Geld jetzt ist, aber ich werde es dem Grafen erklären, und mit etwas Glück wird nun alles wieder gut.«
Godeke wusste gar nicht, wo er anfangen sollte, seinem Freund zu erklären, wie gewaltig er sich irrte. Er entschied, nicht lange drum herumzureden. Es blieb keine Zeit für schonende Worte. »Da muss ich dich wohl enttäuschen«, sagte er schlicht. »Nachdem du verschwunden warst, nahm der Hamburger Rat an, ihr würdet weiter Geschäfte mit den Schauenburgern machen, obwohl dies jüngst verboten wurde. Man verwies Albert daraufhin des Rats. Graf Gerhard II. wiederum fühlte sich von Albert um seinen Anteil betrogen und schickte ihn ins Einlager auf die Riepenburg. Kurze Zeit später löste Hereward von Rokesberghe die Verlobung mit Margareta, und Runa wurde von Vater Everard bezichtigt, eine Hexe zu sein, woraufhin man sie ins Verlies warf. Ich befürchte, es bedarf ein wenig mehr als etwas Glück, damit alles wieder gut wird, mein Freund.«
Thiderich war so fassungslos, dass er kein Wort herausbrachte. Es war ihm unmöglich zu sagen, welcher der Sätze ihn am meisten erschüttert hatte. Vieles, auf das er bislang keine Antwort gehabt hatte, machte plötzlich auf grauenvolle Weise einen Sinn. Von den unzähligen Dingen, die ihm im Kopf herumschwirrten, war der erste Satz, der seinen Mund verließ: »Das Wunder auf der Trostbrücke … Jetzt verstehe ich.«
Godeke blickte erstaunt von Thiderichs Fesseln auf. »Woher weißt du davon? Du warst doch hier in Gefangenschaft.«
»Johannes hat Luburgis und Bodo davon berichtet.«
»Aber Johannes war doch auch hier im Wald?«
»Nein, das war er nicht. Er lebte schon seit Langem in der Stadt. All die Wochen über war er dir sogar weit näher als mir, Godeke: Dein Zwillingsbruder Johannes ist die Magd deiner Schwester – Johanna!«
»Was sagst du da?« Godeke war wie vor den Kopf gestoßen. »Das ist unmöglich. Johanna ist eine Frau. Sie ist ein Bauernmädchen. Du musst dich irren …«
»Leider nicht.«
»Aber ich hätte ihn doch erkennen müssen! Er ist immerhin mein Zwillingsbruder. Wie konnte ich nur so blind sein!« Langsam verstand Godeke. »Deshalb hat er so getan, als wäre er stumm! Wir hätten ihn an seiner Stimme erkannt. Das alles war ein ausgeklügelter Plan, um …«
»… um sich in die Familie einzuschleichen und Rache an Runa, Ragnhild, Albert und dir zu nehmen«, ergänzte Thiderich.
»Du lieber Gott, wie konnte es nur so weit kommen?«, stieß Godeke erschüttert aus und vergaß einen Augenblick, sich weiter den Fesseln seines Freundes zu widmen.
»Wo ist meine Frau, und wo sind meine Kinder?«, fragte Thiderich tonlos und nicht minder erschüttert.
»Sie sind zusammen mit Oda in deinem Haus auf der Grimm-Insel. Dort sind sie in Sicherheit. Meine Mutter, Margareta und Marga sind bei Hildegard von Horborg in Eppendorf.« Er riss sich zusammen und fingerte weiter an den Stricken, die immer noch nicht nachgeben wollten.
Thiderich atmete auf, doch seine Erleichterung darüber, dass es Ava und den Kindern gut ging, wurde von quälenden Fragen überschattet. Noch bevor er den Mund öffnen konnte, um eine weitere Frage zu stellen, fielen plötzlich seine Fesseln ab.
»Geschafft!«, stieß Godeke hervor und sprang auf die Füße. »Los, lass uns keine Zeit verlieren. Wir müssen hier weg, bevor sie wiederkommen.« Auffordernd reichte er seinem Freund die Hand, um ihm aufzuhelfen, doch dieser sah ihn bloß verbittert an.
»Wenn wir jetzt gehen, Godeke, dann kommen sie ungeschoren davon.«
»Ja, das ist wahr, aber dafür
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