Tochter des Ratsherrn
für das verwundete Mädchen gab. Die Gemäuer des Beginenklosters hatten etwas Heiliges an sich, das spürten sogar Runa und Ragnhild.
Vor vielen Jahren einmal hatten Mutter und Tochter selbst hier gelebt, doch die Erinnerungen daran waren von wechselhaften Gefühlen begleitet. Bevor Ragnhild Symon von Alevelde geheiratet hatte, war das Kloster für wenige Monate ihr Zuhause gewesen. Runa hingegen hatte ganze zehn Jahre innerhalb der Mauern verbracht. Erst die Hochzeit mit Walther hatte ihre Zeit als Begine beendet.
Es war schon später Mittag, als Runa sich von dem wackeligen Holzschemel erhob, der neben dem Bett der schlafenden Agnes stand. Sie hatte ein wenig mit ihr sprechen wollen, doch in letzter Zeit schlief sie immerzu. Gerade als sie sich zum Gehen wenden wollte, ertönte hinter ihr eine Stimme.
»Es ist der Mohnsaft.«
Runa drehte sich um. Vor ihr stand eine junge Begine, die ihr irgendwie bekannt vorkam. »Ich verstehe nicht ganz …«
»Deswegen ist sie nicht bei sich«, erklärte die Schwester und deutete mit dem Finger auf Agnes. »Verbrühungen sind äußerst schmerzhaft. Wir geben den Verletzten Mohnsaft, damit sie viel schlafen und Gott sie währenddessen heilen kann.«
Runa nickte.
Die Begine vor ihr war klein und dicklich, und sie lächelte Runa freundlich an. »Erkennst du mich denn nicht mehr?«, fragte sie plötzlich und legte den Kopf schief.
Erstaunt musterte Runa die junge Frau in der Beginentracht von Kopf bis Fuß. »Sollte ich denn …?«
»Kethe Mugghele!«
Runa kniff kurz die Augen zu und riss sie alsgleich überrascht wieder auf. »Aber natürlich … Kethe!«, platzte sie heraus. »Du bist es wirklich. Wie lange ist das schon her?« Dann trat sie einen Schritt auf die Begine zu und fasste sie an den Händen. Es waren sicher schon zwölf Jahre vergangen, seit sich die einstigen Freundinnen das letzte Mal gesehen hatte. »Sieh dich an. Du bist zur Frau geworden …«
Kethe begann zu kichern. »Was hast du erwartet, Runa? Dass wir zwei ewig die kleinen Nachbarsmädchen bleiben?«
Stürmisch zog Runa die Begine an sich. »Du musst mir einfach alles erzählen. Was ist passiert, seitdem du fortgegangen bist? Warum lebst du nicht mehr in Lübeck und was …«, noch während sie sprach, wurde ihr bewusst, wie dumm und grobschlächtig die Frage war. Ihre Stimme wurde leiser. »Was ist mit deinem Mann passiert?«
Die Begine ließ das Kinn auf die Brust sinken. »Er ist gestorben – Gott hab ihn selig. Es war letztes Jahr. Lothar bekam die Schwindsucht, und dann ging alles so schnell. Er ist mir ein guter Gemahl gewesen, obwohl ich ihm keine Kinder schenken konnte.« Dann schaute sie wieder auf und sagte: »Nach seinem Tod bin ich zurück nach Hamburg gekommen und lebe seitdem im Kloster. Hier fühle ich mich meinem Lothar nahe und kann jeden Tag für ihn beten.«
Runa lächelte sie warm an. Kethe hatte nichts von ihrem freundlichen und aufgeweckten Wesen eingebüßt. Schon damals schien es keinen einzigen Tag zu geben, an dem sie nichts fand, über das es sich zu lachen lohnte. Diese Eigenschaft hatte Runa an ihr geliebt. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie sehr ihr die einstige Freundin in der Vergangenheit gefehlt hatte.
»Wie ist es dir ergangen, Runa? Wie viele Kinder hast du? Ich hörte, du bist schwanger, meine Liebe. Erzähle mir alles ganz genau. Wollen wir in den Klostergarten gehen?«
Nebeneinander schlenderten die Frauen durch die Flure bis hin zu den ordentlich angelegten Wegen zwischen den Kräutern. Auch hier war alles vom Schnee bedeckt, was dem Garten etwas Zauberhaftes verlieh. Mit einem Mal war Runa das Kloster so vertraut. Sie konnte einfach nicht glauben, dass seit ihrer Zeit als Begine bereits sechs Lenze vergangen waren. Es fühlte sich fast an, als käme sie nach Hause.
4
Eine seltsame Stimmung hatte sich über die Trauergemeinde gelegt, die dem Sarg mit Gerhard I. darin folgte. Angeführt wurde die Gemeinde von Domdekan Gottschalk von Travemünde. Gleich dahinter folgten die Söhne des Grafen und seine Neffen. Auch wenn der Trauerzug lang war und fast alle Bürger der Stadt, geordnet nach Rang und Reichtum, durch ihre Anwesenheit ihren offenkundigen Respekt zeigten, wusste ein jeder, dass niemand den Tod des Grafen wirklich beweinen würde. Gerhard I. war bei den Bürgern nicht gerade beliebt gewesen. Allein das reine Pflichtgefühl und die Furcht vor seinen herrischen Söhnen waren Grund für ihre bedrückten Gesichter.
Unweigerlich kam einigen der
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