Tochter des Ratsherrn
wurde ruhiger, und genauso unerwartet, wie der Nebel gekommen war, kamen auch die Worte seines Gebets. Flehentlich bat er den Herrgott im Himmel um Hilfe, auf dass es ihm gelinge, Thiderich zu seiner Frau und seinen Kindern zu bringen. Er hatte sein Gebet gerade beendet, als etwas im Nebel seine Aufmerksamkeit erregte.
Schemenhaft zunächst, dann etwas deutlicher und dennoch fast geräuschlos kam es direkt auf ihn zu. Die gemächlichen Bewegungen hatten nichts Bedrohliches, viel eher etwas Unwirkliches. Erst nachdem Godeke sich die geschwollenen Augen gewischt hatte, erkannte er, dass es sich um ein Pferd handelte. Eine Stute. Mit selbstverständlicher Ruhe schritt sie durch die Bäume auf die beiden Männer zu. Um ihren Hals hing lose ein abgerissenes Seil. Reglos verharrte Godeke. Woher kam das Pferd, und warum war es hier? Hatte Gott seine Gebete erhört und es ihm geschickt? Er wusste keine Antwort auf diese Frage, und im Grunde war es auch unwichtig. Das Pferd kam näher, und mit jedem seiner Schritte erschien es Godeke vertrauter. Als es endlich vor ihm stand, hatte er Gewissheit: Es war Millie – Thiderichs Stute –, und es war deutlich zu sehen, dass sie in den letzten Wochen nicht weniger gelitten hatte als Thiderich selbst.
Millie senkte den Kopf zu ihrem einstigen Reiter und fuhr behutsam mit den Nüstern über sein Haar. Immer wieder blies sie kurze Luftstöße aus, doch ihr Herr regte sich nicht. Daraufhin trat sie näher heran und drängte ihre Nase unter seine Schulter, stieß ihn leicht an und gab ein leises Wiehern von sich, fast so, als wollte sie ihn zum Aufsitzen auffordern. Als Thiderich auch darauf nicht reagierte, richtete sie ihren gutmütigen Blick auf Godeke und schaute ihn fragend an.
Angesichts dieser rührenden Zuneigungsbekundung drohte Godeke erneut von seinen Gefühlen überwältigt zu werden. Liebevoll strich er Millie über Mähne und Hals, dann forderte er sie auf, Abschied von Thiderich zu nehmen. »Sag ihm Lebewohl, treue Millie. Er wird nur noch ein letztes Mal auf dir reiten.« Godeke wusste, wie sehr sein Freund dieses Pferd geliebt hatte. Sanft fuhr er mit der Hand über die leicht bebenden Nüstern der Stute und legte seine Wange an ihre Stirn.
Gott hatte ihn in dieser Stunde der tiefsten Trauer nicht verlassen, denn er hatte ihm Millie geschickt. Godeke war sich sicher, dass die Stute den Toten für ihn nach Hamburg tragen würde. Dorthin, wo seine Frau und seine Kinder ihn in geweihter Erde zu Grabe tragen konnten.
»Ich kann es einfach nicht glauben«, stieß die dicke Magd laut aus und stemmte die fleischigen Arme in die Hüften, während die anderen Mägde und Bediensteten der Burg von ihren dicht gedrängten Plätzen auf den groben Holzbänken zu ihr schauten. »Ich kann einfach nicht glauben, dass dieser fremde Spielmann hier dem Grafen tatsächlich seinen Frohsinn zurückgebracht hat.« Während sie sprach, stieß sie Walther freundschaftlich den Ellenbogen in die Seite. »Habt Ihr es auch bemerkt? Heute wurden die Speisen doch tatsächlich auf den silbernen Platten serviert, und der Graf hat sogar befohlen, die silbernen Kerzenhalter wieder aufzustellen – genau vor ihm stand einer –, obwohl er sich darin spiegelte. Ich denke, die trübseligen Zeiten auf der Burg sind endlich vorbei.« Damit erhob sie ihren Holzbecher und sprach mit lauter Stimme: »Wir alle müssen Walther dankbar sein, und darum lasst uns auf ihn trinken!«
»Ja, genau!«
»Auf den Spielmann!«
»Ja, auf Walther!«
Von überall her zeigten sich freudestrahlende Gesichter, in denen ernst gemeinte Erleichterung über das Ende einer grämlichen Zeit abzulesen war, und es ertönten fröhliche Zurufe in Walthers Richtung. Jeder Einzelne wollte ein Wort des Dankes loswerden oder den Becher mit ihm erheben.
Walther war überwältigt von so viel Anerkennung; tat er doch nur, was er sowieso am allerliebsten tat.
Die Erkenntlichkeit der Burgbewohner zeigte deutlich, wie sehr sie alle unter der Verstimmung des Grafen gelitten hatten. Seit der Spielmann bei ihnen weilte, war das Leben für sie alle wieder fröhlicher geworden. Niemand wollte ihn mehr missen – und Walther wollte nicht mehr gehen.
Noch vor wenigen Tagen hätte er es niemals für möglich gehalten, dass das Gefühl von Heimat so austauschbar war. Zunächst war ihm die fremde Hansestadt mit ihrer trutzigen Burganlage im Osten unwirtlich vorgekommen, dann aber, nach nicht einmal zwei Wochen in Kiel, schien es ihm hier fast besser
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