Tochter des Ratsherrn
Johannes das Messer drohend auf seinen fassungslosen Bruder. Obwohl er schwankte, war ihm seine Entschlossenheit deutlich anzumerken. Einige Atemzüge lang starrten die ungleichen Brüder einander bloß an, doch anstatt jetzt auch Godeke zu richten, schritt Johannes auf einmal rückwärts in Richtung der Tür. »Wehe, du folgst mir, Godeke«, warnte er seinen Zwilling. »Wenn wir uns noch einmal begegnen, dann töte ich dich genauso wie Mutter.« Nach diesen Worten drehte er sich um und humpelte rasch aus der Hütte in den Wald.
Es war vorbei. Godeke überlegte, ihm nachzulaufen, ihn zu überwältigen und anschließend zu töten für all das, was er getan hatte, doch er wusste, dass sein verletztes Bein ihn nicht mehr lange tragen würde. Wohl aus ebendem Grund hatte auch Johannes die Flucht angetreten. Seine Wunden ließen keine weiteren Kampfeshandlungen mehr zu. Godeke sank auf die Knie. Seine Verletzungen waren zahlreich. Er hatte Mühe, nicht ohnmächtig zu werden. Blut tropfte von seiner Nase und Speichel von seinem Kinn. Die Schwellungen in seinem Gesicht schienen mit jedem seiner flachen Atemzüge größer zu werden. In seinen Ohren rauschte es, und ihm wurde schwarz vor Augen. Er wusste, dass er viel Blut verloren hatte, und aus der Wunde an seinem Bein floss es noch immer.
Plötzlich fiel sein Blick auf Thiderich, der reglos am Boden lag, und er gab sich einen Ruck. Mit letzter Kraft kroch er zu seinem Freund hinüber. »Thiderich, Thiderich«, flüsterte er, doch seine Worte erreichten den am Boden Liegenden nicht. Godeke umfasste die Schultern seines Freundes und schüttelte sie mühevoll. »Thiderich, sprich mit mir. Sag nur ein einziges Wort«, flehte er schließlich mit tränenerstickter Stimme, doch er bekam auch dieses Mal keine Antwort. »Nein, nein, nein! Wach auf! Öffne die Augen!«, rief er verzweifelt, aber es war vergebens.
Thiderichs regloses, bläulich verfärbtes Gesicht hatte Godeke längst verraten, was er nicht wahrhaben wollte. Weinend brach er über dem schlaffen Körper seines Freundes zusammen und zog ihn an seine Brust. Thiderich war tot.
Stunden vergingen, ehe Godeke die Kraft fand, sich vom Boden zu erheben. Da er zu schwach war, ein Grab für Luburgis auszuheben, drehte er sie lediglich auf den Rücken und faltete ihre Hände. Zwischen ihre Finger steckte er ein Kreuz aus zwei kleinen Stöcken. Dann schloss er ihre Augen für immer und sprach ein kurzes Gebet, in dem er Gott bat, sie von ihren Sünden freizusprechen. Ansonsten konnte er nichts für sie tun. Es gab keinen Weihrauch, kein geweihtes Wasser, keine Absolution durch einen Geistlichen. Doch er, er verzieh ihr in diesem Moment all das Schlimme, das sie angerichtet hatte – er konnte nicht anders, auch wenn sie es nicht verdient hatte.
Den toten Bodo hingegen ließ er achtlos liegen. Diesem Scheusal geschah es recht, im ewigen Feuer der Hölle zu schmoren.
Unter Auferbietung seiner letzten Kräfte schleifte Godeke seinen verschiedenen Freund vor die Hütte, dann brach er erschöpft zusammen. Wieder kämpfte er mit den Tränen, die stumme Zeugen seiner Trauer, aber ebenso seiner Verzweiflung waren. Wie sollte er seinen Freund nur durch den Wald bis nach Hamburg tragen? Er wusste, dass er das nicht schaffen konnte, doch ihm fehlte auch die Kraft dazu, ein angemessenes Grab für ihn auszuheben. Die einzige schauerliche Möglichkeit, die ihm noch blieb, war, seinen Freund den Tieren des Waldes zum Fraß zu überlassen. Nein, schwor sich Godeke, das würde nicht passieren. Eher würde er hier an seiner Seite bleiben, bis Thiderich zu Erde und Staub zerfallen war.
»Ich werde dich nicht zurücklassen, mein Freund. Das verspreche ich dir«, flüsterte er dem Toten zu, legte die Hände auf dessen Brust und schloss die Augen. Er konnte einfach nicht begreifen, dass er Thiderich nicht hatte retten können. Noch vor wenigen Stunden hatten sie miteinander gesprochen, und nun zeugten der fehlende Herzschlag und die dunklen Male an seinem Hals von der unfassbaren Wahrheit.
Eine ganze Weile ließ Godeke die Hände auf Thiderichs Brust in der Hoffnung, doch noch ein Lebenszeichen zu verspüren. Vielleicht war ja alles nur ein böser Traum! Doch es war kein Traum, es war die entsetzliche Wirklichkeit.
Als er die Augen nach einiger Zeit wieder öffnete, war ein leichter Nebel im Wald aufgezogen. Er hatte etwas Tröstliches und brachte eine geheimnisvolle Stille mit sich, indem er alles in ein schleierhaftes Weiß tauchte. Godeke
Weitere Kostenlose Bücher