Tochter des Ratsherrn
Walther, dass ihn plötzlich etwas am Ärmel zupfte. Verwundert drehte er sich um. Vor ihm stand ein kleiner, schmutziger Junge mit triefender Nase. Wortlos hielt er Walther ein Stück Pergament entgegen. Nachdem er es übergeben hatte, flitzte er flink wie ein Wiesel wieder davon. Verwundert blickte Walther ihm nach und musterte dann die ordentlich geschwungene Handschrift auf dem Papier. Sie kam von einem geübten Schreiber, das war sofort zu erkennen, und noch bevor Walther den Namen und das Anliegen des Verfassers gelesen hatte, wusste er auch schon Bescheid.
Also doch, dachte er bei sich. Seit zwei Tagen hatte er vermutet, dass es dazu kommen würde. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen. Walther war bereit für das, was nun folgen sollte; die Frage war nur, ob der Schreiber dieses Briefes es auch war.
Um nicht aufzufallen, riss er noch ein paar derbe Witze mit dem Burggesinde und leerte seinen Becher. Dann entschuldigte er sich mit der Ausrede, müde vom Singen zu sein und seine Stimme für den nächsten Tag schonen zu müssen.
In Wahrheit aber verließ er das Wirtschaftsgebäude, in dem sich die Dienerschaft des Abends aufhielt, hastete über den Hof, vorbei an dem Brunnen und dem Palas, der Kemenate für die Frauen und dem Bergfried bis hin zum Gästehaus. Nur wenig später hatte er sein Ziel erreicht. Als er vor der gewünschten Türe stand, streckte er, ohne zu zögern, den Arm aus und hämmerte mit der geballten Faust fest entschlossen gegen das massive Holz mit den schmiedeeisernen, verzierten Angeln.
»Kommt herein«, ertönte es von drinnen. Walther trat ein und sah Schinkel vor dem Kamin stehen. Die Kammer war warm und verschwenderisch hell erleuchtet von unzähligen Kerzen. Die kostbaren Möbel ließen darauf schließen, dass hier stets nur Gäste von Stand und Namen wohnten – Johann Schinkel war selbstverständlich ein solcher Gast.
»Habt Dank für Euer Kommen«, begann der Ratsnotar weit höflicher, als er von Standes her musste. Ganz offensichtlich wollte er Walthers Wohlwollen heraufbeschwören.
»Ich danke Euch für die Einladung«, antwortete Walther ebenso höflich und deutete eine Verbeugung an.
»Wollt Ihr Euch nicht setzen?«
»Wenn Ihr nichts dagegen habt, würde ich es vorziehen, stehen zu bleiben.«.
»Leider muss ich sagen, dass ich es tatsächlich für besser hielte, wenn Ihr Euch setzen würdet. Glaubt mir, meine unerfreuliche Kunde verlangt danach.«
»Was soll das für eine Kunde sein, die Ihr mir bringt? Ich denke, wir zwei wissen ganz genau, dass uns nur eine einzige Sache verbindet und die …«
»Ich bitte Euch inständig, setzt Euch«, wiederholte Johann Schinkel auffallend geduldig.
Walther wurde mulmig zumute. Zwar wusste er nicht, was genau der Ratsnotar von ihm wollte, doch er ahnte natürlich, dass es etwas mit Runa zu tun haben musste. Auch wenn er seinem Rivalen am liebsten widersprochen hätte, bloß um ihm zu zeigen, dass er noch immer selbst entschied, ob er stehen oder sitzen mochte, tat er, was Johann Schinkel ihm riet.
»Wein?«
»Nein, danke«, lehnte Walther brüsk ab.
»Ich werde einen nehmen, auch wenn Ihr nicht mit mir trinken wollt«, entschied Johann Schinkel, schenkte sich ein und setzte sich Walther schweren Herzens gegenüber. Eine Zeit lang blickten die beiden Männer in die tanzenden Flammen des Kaminfeuers, dann ergriff der Ratsnotar das Wort: »Ihr habt allen Grund mich zu hassen, Nuncius.«
»Spielmann!«
»Was sagt Ihr?«
»Ich bin nun Spielmann und kein Nuncius mehr.«
»Nun denn, wenn Ihr es so wollt«, gab Johann zurück, jedoch nicht ohne sich entsprechend zu wundern. Wer wollte schon lieber ein unehrenhafter Spielmann sein, wenn er doch eigentlich ein ehrenhafter Nuncius war? Johann sammelte sich und fuhr fort: »Eines kann ich Euch versichern: Ich habe lange überlegt, wie ich dieses Gespräch beginnen soll. Und wisst Ihr was? Mir ist kein guter Anfang eingefallen.« Der Ratsnotar blickte Walther direkt an, hob kurz die Hände und ließ sie dann wieder in den Schoß fallen. »Darum habe ich mich dazu entschieden, die Dinge direkt beim Namen zu nennen.«
Walther wurde heiß und kalt zugleich. Auch er hatte sich seit der Ankunft des Ratsnotars auf der Burg überlegt, wie ihr erstes Treffen wohl verlaufen würde. Kein einziges Mal in all den Jahren hatten die Männer offen über ihre ungewollte Verbindung zueinander gesprochen – die Tatsachen waren einfach zu unerhört. Sollte sich das heute wirklich ändern? »Nun, ich
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