Tochter des Ratsherrn
zu gehen als all die Jahre zuvor in Hamburg. Endlich fühlte er sich frei von der alles überschattenden Pein, eine Gemahlin an seiner Seite zu wissen, die einen anderen liebte. Er spürte die Erleichterung, als hätte er einen Sack voll Steine abgeworfen, und diese Erkenntnis erschreckte Walther zutiefst. Doch wallten in ihm noch weitere Gefühle auf, für die er sich wahrlich schämte.
Nachdem Albert, Thiderich und er vor einundzwanzig Jahren aus Friesland nach Hamburg gekommen waren, war er wie von selbst zu Alberts Nuncius geworden. Walther konnte lesen und schreiben, und Albert vertraute ihm. Es war ein kluger Zug gewesen, und eigentlich hätte er seinem Freund für alle Zeit dankbar sein müssen. Schließlich gab Albert ihm eine Möglichkeit, die er als einfacher Junge aus einem friesischen Dorf sonst niemals gehabt hätte. Doch stattdessen hatte sich über die Jahre ein Gefühl der Unzufriedenheit in Walther breitgemacht. Auch wenn es ihm niemals nach Macht gedürstet hatte, war es ihm irgendwann ungerecht erschienen, dass Albert und Thiderich jeden Tag das tun durften, was ihr Herz erfreute. Sie liebten ihre immer erfolgreicher werdenden Handelsgeschäfte; Walther hingegen wollte nicht die Bücher führen, er wollte dichten und singen.
Dieser Wunsch war über die Jahre schier übermächtig geworden, und auch deshalb hatte er das Angebot der Gräfin Margarete von Dänemark nicht abschlagen können. Nun fühlte er sich schuldig Albert und Thiderich gegenüber und mochte gar nicht daran denken, wie enttäuscht sie sein würden, wenn sie erst erfuhren, dass er für immer fort war, doch seine Freude darüber, endlich singen und dichten zu können, tröstete ihn.
Bald schon, dessen war er sich sicher, würde auch das letzte Gefühl der Reue verschwunden sein. Hier auf der Burg vergaß man schnell, denn das Leben hinter den dicken Mauern war ein anderes. Kaum jemand kannte ihn hier, und keinen der Diener, Pagen, Knappen, Ritter, Handwerker, keine der Mägde und Damen scherte es, woher er kam. Walther genoss es, ein Mann ohne Vergangenheit zu sein. Seine Herkunft war nicht von Interesse, da es auf einer Burg durchaus üblich war, dass Fremde von irgendwoher kamen und irgendwohin gingen.
Er wollte Runa für immer aus seinen Gedanken verbannen, und das sollte ihm hier, am nördlichsten Flecken, den er hatte finden können, an der direkten Grenze zu Wagrien und Dänemark, am Ende des unwegsamen Geländes Limes Saxoniae aus vergangenen Zeiten, doch sicher gelingen.
Zum zweiten Mal in seinem Leben würde er von vorne anfangen. Von nun an war er nicht mehr der Nuncius Alberts von Holdenstede, auch nicht der Fremde aus Friesland oder der Mann einer Ratsherrntochter – von nun an war er Walther der Spielmann!
»Sing uns etwas, Walther!«, forderten einige Stimmen aus der fröhlichen Runde des Burggesindes.
»O bitte, habt Erbarmen«, erwiderte Walther lachend. »Ich habe heute schon mindestens so viele Lieder gesungen wie es Mäuse auf der gesamten Burg gibt. Gönnt mir eine Pause.«
»Pah, den Grafen singst du vor, aber deinen Freunden nicht«, empörte sich eine kecke Magd mit auffallend grünen Augen gespielt. »Vielleicht solltest du dir vorstellen, ich wäre die Gräfin«, scherzte sie weiter und legte sich einen schmutzigen Lumpen wie einen Schleier über den Kopf. Dann stand sie auf und schritt erhobenen Hauptes vor ihm auf und ab.
Das Burggesinde lachte grölend, und einige verbeugten sich vor der Magd, als wäre sie tatsächlich Margarete von Dänemark.
Auch Walther stimmte in das Gelächter mit ein. Schließlich gab er seinen Widerstand auf, kniete sich mit einem Bein galant vor die Magd und ergriff ihre Hand. Dann stimmte er eine selbst erdachte Minne an.
Ich wandere über Stock und Stein
Von morgens früh bis abends spät
Um ein letztes Mal bei ihr zu sein
Obwohl der Sturm mir entgegenweht.
Ganz gleich, was ich noch werde wagen
Ob Kampf gegen Ritter und Recken
Alles werde ich ertragen
Jeden für sie niederstrecken.
Wenn wir vereint sind unter Linden
Unsere Seelen erfüllt mit Glück
Dort wollen wir den Frieden finden
Und kehren niemals mehr zurück.
Dieser Darbietung folgte eine weitere und dann noch eine und noch eine. Sie alle konnten nicht genug bekommen von des neuen Spielmanns Künsten, und Walther gab ihrem Drängen gerne nach. Die Lachenden und Tanzenden ließen erst Gnade walten, als Walthers Stimme zu versagen drohte.
Später dann, die Nacht war schon hereingebrochen, bemerkte
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