Tochter des Ratsherrn
er den Trunk an seine Lippen und leerte den edlen Kelch in einem Zug.
»Schnüre mir schnell die Beinlinge, Frau. Ich muss sofort zum Rathaus.«
Der Ratsnotar Johann Schinkel redete bereits eine ganze Weile. Alle Ratsmitglieder hörten ihm aufmerksam zu – alle, außer zwei der anwesenden Männer.
Als Willekin Aios sein Haus vor über einer Stunde verlassen hatte, war er der festen Überzeugung gewesen, dass er den geheimen Brief noch vor Beginn der Ratssitzung auf den Tisch des Geheges legen und dessen Inhalt mit überzeugt kräftigen Worten verkünden würde. Doch auf dem Weg zum Rathaus war seine Entschlossenheit mit jedem Schritt gewichen, bis seine Zweifel schließlich Überhand genommen hatten. Und so gewährte er der von Johann Schinkel bereits lange vor diesem Tag geplanten Verkündung der Auslagerung der Rentenbücher aus den Erbebüchern zunächst einmal Vorrang. Diese Entscheidung hatte natürlich zur Folge, dass er nun kein einziges Wort des Ratsnotars mehr vernahm, sondern in sich gekehrt dasaß und über den Brief auf seinem Schoß nachgrübelte.
Immer wieder überflog er unbemerkt die Zeilen – stets in der Hoffnung, etwas zu entdecken, das ihn am Inhalt zweifeln ließ, sodass er das Pergament einfach hätte abtun können; doch ein solcher Hinweis fand sich nicht. Willekin Aios wusste, dass er mit der Verlautbarung des Briefs einen vielleicht nicht wiedergutzumachenden Schaden anrichten würde – gar eine Familie stürzen konnte. Er wollte sich einfach sicher sein, dass er das Richtige tat, deshalb ließ er Johann Schinkel noch ein wenig weitersprechen.
Von allen Ratsherren unbemerkt gab es einen weiteren Mann, dem es nicht gelang, den Ausführungen des Ratsnotars zu folgen.
Albert von Holdenstede war tief in Gedanken versunken. Bereits seit dem Morgengrauen haderte er mit sich und seinem Entschluss, schwankte hin und her zwischen der Entscheidung, mit der Offenbarung der Wahrheit einen gewaltigen Stein ins Rollen zu bringen, der möglicherweise seinen Untergang bedeutete, oder aber zu schweigen und zu versuchen, in Frieden weiterzuleben. Was wäre, wenn Thiderich morgen auftauchen würde? Dann hätte er sich umsonst verraten. Zum wiederholten Male fragte sich Albert, ob er womöglich doch noch einen Tag länger warten sollte. Vielleicht würde noch alles gut werden, doch tief in seinem Innern wusste Albert, dass ihm keine Wahl blieb. Je länger er wartete, desto schlimmer konnte es für ihn ausgehen. Der launische Graf Gerhard II. würde nicht ewig auf seinen Anteil warten und Thiderich sicher nicht morgen in Hamburg auftauchen!
Albert hatte sich entschieden. Er würde reden – ganz gleich, ob er nun wollte oder nicht. Er musste reden. Nur noch wenige Augenblicke trennten ihn von seinem Geständnis, denn selbstverständlich würde er den Ratsnotar zunächst zum Ende kommen lassen. Ihn zu unterbrechen wäre Albert nie in den Sinn gekommen. Auch wenn er es in den vergangenen Jahren zu hohem Ansehen gebracht hatte, trennten ihn noch immer einige Plätze im Gehege von der erhabenen Sitzposition des Ratsnotars – was gleichbedeutend mit seiner Stellung im Rat war. Und so fühlte er, wie sein Herz klopfte und seine Hände feucht wurden, während er wartete, dass Johann Schinkel mit seinen Ausführungen zum Ende kam.
Der Ratsnotar war noch nicht ganz fertig, als sich die Stimme des Mannes erhob, der als Einziger befugt war, ihn derart unverfroren zu unterbrechen.
»Bitte verzeiht, Johann«, begann der Bürgermeister entschuldigend. »Ich bin untröstlich, Euch stören zu müssen, aber ich habe etwas Wichtiges zu sagen, das leider nicht mehr länger warten kann.«
Sichtlich erstaunt, aber dennoch billigend nickte der Ratsnotar dem Bürgermeister zu, legte das schwere Erbebuch beiseite und setzte sich auf das hölzerne Ratsgestühl.
»Meine Herren, bevor ich verkünde, was ich zu sagen habe, frage ich einen jeden von Euch, ob er etwas auf der Seele hat, das er gerne vortragen möchte.« Der Bürgermeister verstummte und blickte prüfend in die Runde.
Es war still im Gehege. Alle Männer schauten fragend zu Willekin Aios auf. Was hatte das zu bedeuten?
Albert schreckte aus seinen Gedanken. Nicht im Traum dachte er daran, dass der Bürgermeister ihn meinen könnte. Noch immer wartete er auf den rechten Moment, der es ihm erlaubte, sein Geständnis vorzutragen.
»Nun denn«, sagte Willekin Aios wenig später bedrückt. »Wenn sich niemand von meinen Worten angesprochen fühlt, bleibt mir wohl
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