Tochter des Ratsherrn
Redefluss an, der aus zahlreichen Mündern gleichzeitig zu kommen schien. Das Geständnis von einem der Ihren, die Gesetze des Rates mit Vorsatz missachtet zu haben, war ebenso selten wie erschütternd. Doch dass dieser nun dazu einen hochangesehenen Ratsherrn der Intrige beschuldigte, machte die Situation noch weit unerfreulicher.
Albert hatte viele Freunde im Rat, doch Johannes vom Berge besaß das höhere Ansehen. Es wurden verschiedene Stimmen laut. Einige der Männer waren sichtlich enttäuscht von Albert, andere wiederum empörten sich bloß lautstark, ohne sich jedoch auf eine Seite zu schlagen. Niemand aber war bereit, für Albert einzustehen. Die Beweise seiner Schuld wogen einfach zu schwer.
»Ruhe! Ruhe!«, befahl der Bürgermeister streng. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich die Gemüter einigermaßen beruhigt hatten und Willekin Aios wieder in einem normalen Ton sprechen konnte. »Albert, es erschüttert mich, dass Ihr die Möglichkeit eines Geständnisses nicht genutzt habt, als ich Euch die Gelegenheit dazu gegeben habe. Ich kann nicht leugnen, dass Euch das noch verdächtiger macht, als es ohnehin bereits der Fall ist.« Die nächsten Worte kosteten den Bürgermeister sichtlich Kraft. »Euer Verhalten zwingt mich zum Äußersten. Es tut mir leid. Bis auf Weiteres verweise ich Euch des Rates. Dieser wird in den nächsten Wochen über Eure Zukunft in unseren Reihen beraten.«
Albert hörte die Worte Willekin Aios’ wie aus weiter Ferne. Nichts war so gelaufen, wie er es geplant hatte, und er selbst trug auch noch die Schuld an seiner misslichen Lage! Obwohl Thiderich dagegen gewesen war, hatte Albert darauf bestanden, dass sein Freund zum Grafensitz nach Plön ritt. Warum nur hatte er sich nicht ein einziges Mal von seinem Handelspartner oder seinem Sohn überzeugen lassen? Aber was nützten diese Gedanken jetzt noch? All das war nun unwichtig. Es war zu spät.
Um eine gerade Haltung bemüht stand Albert unter den zwiespältigen Blicken der Ratsherren auf und verließ das Gehege. In ihm kämpfte das Gefühl der Demütigung gegen das Wissen, dass er den Ausschluss aus dem Rat verdient hatte. Mit hölzernen Bewegungen verließ er das Rathaus. Ohne dass er über seinen Weg nachdachte, durchquerte er den Hafen – vorbei an der Baustelle des Krans, die Brotschrangen entlang, bis er schließlich rechts in die Reichenstraße einbog und die letzten Schritte zu seinem Haus zurücklegte.
Was war nur geschehen? Zu schnell hatten sich die Ereignisse des Tages überschlagen, als dass er sie zu begreifen vermochte. Eben noch hatte er als Ratsmann im prächtigsten Haus der Stadt gesessen, und nun war er ein umherirrender Verbannter. Alles, was er in den Jahren nach dem Brand erschaffen hatte, schien ihm plötzlich wie Sand durch die Finger zu rinnen. Er war machtlos. Fast hatte er schon vergessen, wie es sich anfühlte zu versagen, doch nun war alles wieder da. Die Jahre, die er unter seinem machthungrigen Bruder Conrad gelebt hatte, schienen ihn einzuholen.
Als er seine großzügige Diele betrat, kam ihm Ragnhild entgegen. Ein einziger Blick auf ihren Mann genügte, um zu wissen, dass etwas Furchtbares geschehen sein musste. Wortlos schlang sie die Arme um ihn und drückte sich an ihn. Tränen rannen ihr über die Wangen. Obwohl sie nicht wissen konnte, was ihm widerfahren war, spürte sie doch, dass nichts mehr so sein würde wie zuvor.
Albert wollte reden, aber seine Lippen waren wie versiegelt. Er konnte Ragnhild nicht beibringen, dass die Zeit der ehrbaren Ratsfamilie von Holdenstede vorbei war und nun die Zeit der Ungewissheit erneut begann. Zu lange hatte seine Frau in ihrem Leben bereits leiden müssen. Und so beschloss Albert, vorerst zu schweigen – wenigstens so lange, bis es nicht mehr ging.
Runas Tage waren eintönig geworden. Seitdem Vater Everard sie beim Wasserholen getadelt hatte, hielt sie sich bei allen häuslichen Aufgaben zurück und stickte nahezu unentwegt. Sie war sich jetzt schon sicher, dass sie die sonst so geliebte Handarbeit bald hassen lernen würde.
Heute jedoch sollte es wenigstens eine kleine Abwechslung geben: Der Wochenmarkt stand an. Runa fieberte ihm entgegen, als ginge es um das heilige Osterfest selbst. Nur endlich wieder raus aus dem Haus!
Sie liebte es, sich in das Gedränge der Frauen zu mischen, hier und da mit einer Nachbarin zu plaudern und all die feilgebotenen Waren zu betrachten. Schon jetzt wusste sie, dass der Sonnenschein sie zum Verweilen einladen
Weitere Kostenlose Bücher