Tochter des Ratsherrn
Niederkunft sollte erst in ungefähr fünf bis sechs Wochen sein. Wenn das Kind jetzt kam, würde es sterben.
Der Wagenführer sah die Frau erst im letzten Moment. Mit hastigen Bewegungen fasste er die ledernen Zügel weiter und weiter nach und zog so heftig daran, dass das Pferd erschrocken den Kopf nach hinten riss. Nur eine Handbreit vor der Frau kamen die tänzelnden Hufe zum Stehen. Im Wageninneren rumpelte es hörbar, lautes Schimpfen ertönte.
»Bei allen Heiligen, was hat das zu bedeuten?« Noch bevor der Fahrer antworten konnte, wurde der Wagenschlag aufgerissen und der Hamburger Ratsnotar und Domherr Johann Schinkel blickte hinaus, um nach dem Grund für diesen abrupten Halt zu sehen. Zunächst entdeckte er nur die weinende Freyja, die von einer erschrockenen Magd an sich gedrückt wurde, erst dann bemerkte er die am Boden liegende Frau. Er hatte das Gefühl, sein Herz würde einen Schlag aussetzen. Runa!
»Sie … sie lag einfach auf der Straße, Herr. Ich konnte … gerade noch rechtzeitig anhalten«, stotterte der Fahrer.
Johann überlegte nicht lang. Entschlossen sprang er aus dem Wagen und kniete sich neben seine einstige Geliebte. Es war ihm gleich, was die Menschen dachten, die sich bereits um sein Gefährt versammelt hatten. Sanft drehte er ihren Kopf zu sich und blickte in ihr ebenmäßiges Gesicht. Sie war blass, hatte die Augen aber geöffnet. Ihrem Blick entnahm Johann, dass auch sie ihn erkannt hatte, doch ihre Lippen blieben stumm. »Steig mit dem Kind in den Wagen. Ich werde euch zum Haus deiner Herrin fahren«, richtete der Ratsnotar das Wort an Johanna.
Nachdem die Magd und das Mädchen eingestiegen waren, schob er seine Arme unter Runas Körper und hob sie hoch, als hätte sie das Gewicht eines Kindes. Behutsam bettete er sie auf die gepolsterte Bank im Wageninneren und gab dem Mann auf dem Bock den Befehl: »In die Reichenstraße!«
Freyja hörte auf zu weinen, zu abgelenkt war sie von dem kostbar gekleideten Fremden und seinem prunkvollen Gefährt. Ihr immer leiser werdendes Schluchzen wurde schon bald von dem Gerumpel der hölzernen Wagenräder übertönt, die gemächlich über die unebenen Wege polterten.
Um Johann dagegen wurde alles still. Sehr wahrscheinlich hätte er es noch nicht einmal bemerkt, wenn das Kind aus vollem Halse geschrien hätte. All seine Sinne richteten sich auf Runa – und ihre richteten sich auf ihn. Wie gern wäre er diese kurze Fahrt mit ihr allein gewesen! Sein ganzes Hab und Gut hätte er dafür gegeben! Doch sie waren nicht allein, wenngleich ihn die Gegenwart der Magd keineswegs dazu zwingen würde, diesen einmaligen Moment ungenutzt verstreichen zu lassen.
Und so kniete er sich galant vor die auf der Bank liegende Runa und drehte Johanna, die mit Freyja auf der gegenüberliegenden Bank saß, den Rücken zu. Nur etwa zwei Ellen trennten sie jetzt noch voneinander – zwei Ellen, aus denen augenblicklich die ganze Welt zu bestehen schien.
»Wie geht es Euch?«, fragte er mit einem so leidenschaftlichen Blick, dass Runa glaubte, darin zu versinken. Sie wusste sofort, dass er nicht ihren Zustand meinte, sondern all die Jahre, die sie ohne einander hatten verbringen müssen und in denen es niemals auch nur einen Grund gegeben hatte, der es ihnen erlaubte, miteinander zu sprechen.
Runa sah in die strahlend blauen Augen über sich, die sie all die vielen Jahre so schmerzlich vermisst hatte. Sie wollte etwas erwidern, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt. Wie oft hatte sie schlaflos im Bett gelegen und von genau so einem Moment geträumt? Nun war er da, doch sie wusste, dass er nur einen Atemzug lang andauern würde. Stumme Tränen rannen ihr die Schläfen hinab. Ihre Lippen formten ein Wort, doch es kam kein Ton heraus.
Aus Gründen der Schicklichkeit hatte Johann seine Finger fest auf dem Rücken verschränkt. All seine Willenskraft war nötig, dass er sich nicht vergaß und in einem Anflug übermächtiger Liebe Runas Gesicht mit den Händen umschloss.
Doch Runa war hinter Johanns breiten Schultern vor den Augen ihrer Magd und ihrer Tochter verborgen, und so konnte sie tun, wozu er nicht in der Lage war: Unwillkürlich hob sie eine ihrer Hände und legte sie auf Johanns Herz. Selbst durch die vielen Lagen Seide hindurch konnte sie es pochen fühlen. Es schlug schnell und kräftig, und sie wusste, es schlug nur für sie!
Johann schloss für einen kurzen Augenblick die Augen. Das Leid war unabwendbar; gleich würde der Wagen anhalten, und dann wäre
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