Tochter des Ratsherrn
sie ihm vorher nicht die Kehle durchschnitten oder ihn schlicht verhungern ließen.
Auch heute wurde Thiderich wieder einmal an die Übermacht seiner Entführer erinnert. Wie immer an die Wand der Hütte gefesselt musste er mit ansehen, wofür Johannes einen beachtlichen Teil der gestohlenen Münzen ausgegeben hatte.
Mit einem ächzenden Laut stellte dieser den schweren Korb, den er den ganzen weiten Weg aus der Stadt hierhergetragen hatte, auf dem gestampften Lehmboden ab.
»Mein Junge«, begann Luburgis mütterlich. »Du bist ja ganz außer Atem. Setz dich erst einmal.« Sofort eilte sie mit einem klapprigen Schemel herbei und schob ihn Johannes unter.
Schwer ließ sich der Ankömmling darauf fallen und wischte sich weibisch den Schweiß von der Stirn.
Bodo verdrehte die Augen. Mit barschen Worten fuhr er den noch immer verkleideten Johannes an: »Großer Gott, nun reiß dich zusammen. Dein Kleid macht dich wohl tatsächlich zu einem Weib, was? Zeig lieber, was du in deinem Korb hast!«
Thiderich konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Der grobe Hüne ließ wirklich nichts unversucht, um sein Gegenüber zu beleidigen. Möglicherweise ärgerte er sich darüber, dass er seine Gespielin seinetwegen am heutigen Tage nicht besteigen konnte, denn so unterwürfig Luburgis sonst auch war, diese eine Bedingung hatte sie Bodo gestellt: Ihr Ziehsohn durfte nichts von ihrer Liebschaft wissen.
Johannes erhob sich tatsächlich von seinem Schemel und ging zu dem Korb hinüber, wobei er überraschend selbstsicher entgegnete: »Ich erwarte nicht, dass du Dummkopf verstehst, was für ein gewitzter Plan hinter meiner Verkleidung steckt. Hier, nimm deinen Dolch, den du von deinem Anteil wolltest, und schnitze dir im Wald etwas zum Spielen.«
Bodo wurde rot vor Zorn angesichts dieser Frechheit. Er war weit größer und kräftiger als sein Gegenüber und hätte Johannes mit einem Schlag das Maul stopfen können, doch was den Geist anbelangte, so war der seinem Widersacher um einiges unterlegen. So endete auch diese Zankerei wie immer: Bodo beleidigte Luburgis’ Stiefsohn, und dieser warf ihn darauf für eine Nacht aus der Hütte, die ihm als ältestem und einzigem Mann der Familie zustand.
Nachdem sich Bodo getrollt hatte, richtete Johannes das Wort an Luburgis: »Er sollte gehen, Mutter. Wir brauchen ihn nicht mehr.« Eine tiefe Zornesfalte bildete sich zwischen seinen Augen, während er Kleid und Haube abstreifte.
In diesen Momenten konnte Thiderich von seinem Platz auf der anderen Seite der Hütte aus erkennen, wie Luburgis um die richtigen Worte rang. Sie durfte sich nicht verraten, wollte ihren Gespielen aber scheinbar auch nicht verlieren. Manchmal überlegte Thiderich, ob er aus seinem Wissen einen Vorteil schlagen konnte, doch jedes Mal verwarf er den Gedanken wieder. Eine unüberlegte Tat hätte sein Leben ernsthaft gefährden können. Er tat gut daran, sich unauffällig zu verhalten.
Luburgis wandte sich von Johannes ab, damit er ihr Gesicht nicht sah, und sagte: »Ich werde nicht jünger. Die Arbeiten hier in der Hütte sind beschwerlich, und du bist nicht hier. Willst du, dass ich alles alleine machen muss? Wasser holen, Holz hacken, Feuer machen? Wie soll ich dabei unseren Gefangenen bewachen?«
Johannes’ eisiger Blick schweifte zu Thiderich hinüber. »Den brauchen wir genauso wenig wie Bodo.«
Thiderich lief es kalt den Rücken herunter.
»Sprich nicht so vorschnell, mein Junge. Wer weiß, ob der uns nicht noch von Nutzen sein kann. Und nun hole eines der Hühner aus dem Stall. Ich will dir heute ein kräftiges Mal bereiten, nun, da wir es uns erlauben können.«
Thiderich wusste, was sie damit meinte: Alberts Münzen hatten einen Hauch von Wohlstand in die Hütte geweht. Jede Woche brachte Johannes edle Stoffe für neue Gewänder und köstliche Speisen für den Topf seiner Mutter mit in den Wald, deren Gerüche Thiderichs Magen laut knurren ließen. Wenn etwas übrig blieb, kippte Luburgis die Reste vor ihm auf dem Boden aus. Da seine Hände auf dem Rücken zusammengebunden waren, blieb ihm nichts anderes übrig, als das Essen mit der Zunge vom Boden aufzulecken. Es war erniedrigend, und dennoch hatte sich Thiderich fest vorgenommen durchzuhalten. Immer wenn ihn die Wut zu übermannen drohte, dachte er an Ava und seine Kinder. Er musste es schaffen, sich zu befreien, um sie bald wieder in seine Arme schließen zu können.
Johannes schien sich den Worten seiner Mutter zu fügen und Thiderich
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