Tochter des Ratsherrn
sie noch, sich zu täuschen, doch dann ließ es sich nicht mehr länger leugnen.
Mit fahrigen Bewegungen fasste sich Ragnhild an ihren Schleier. »Ist meine Haube verrutscht, oder warum starren mich alle so an?«
Nach einem knappen Blick auf ihre Freundin versicherte Marga: »Deine Haube sitzt wie immer. Ich weiß auch nicht, was in die Weiber gefahren ist. Sobald wir ihnen den Rücken kehren, beginnen sie zu tuscheln.«
Ragnhild war einerseits beruhigt, dass Marga das Gleiche beobachtet hatte und sie nicht für verrückt hielt, doch andererseits spürte sie Sorge in sich aufsteigen, da sie sich das Verhalten der Frauen auf den Straßen nicht erklären konnte. Immer wieder steckten zwei oder drei von ihnen die Köpfe zusammen und zeigten mit dem Finger auf sie und Marga. Was hatte das nur zu bedeuten?
Je näher sie den Fleischschrangen kamen, desto enger wurden die Gassen, doch wo normalerweise dichtes Gedränge herrschte, fanden sich Ragnhild und Marga plötzlich nahezu allein wieder. Die Frauen stoben regelrecht vor ihnen auseinander, als kämen sie von den Siechen außerhalb der Stadtmauern aus dem Hospital St. Georg.
Irgendwann konnte Ragnhild nicht mehr an sich halten. Aufgebracht drehte sie sich um sich selbst. »Heilige Mutter Gottes, was ist denn nur los?«, stieß sie laut hervor. »Warum weicht ihr Leute vor uns zurück? Sprecht schon!« Natürlich bekam sie keine Antwort. Die vielen Augenpaare stierten sie einfach weiter wortlos an. Plötzlich fiel ihr Blick auf das bekannte Gesicht ihrer Nachbarin Margareta Cruse. Kurz entschlossen raffte Ragnhild ihre Röcke und hielt mit forschen Schritten auf diese zu. »Margareta, Margareta!«, rief sie, um die ältere Frau auf sich aufmerksam zu machen, doch noch bevor sie die Cruse erreicht hatte, hob diese abwehrend die Hände und stahl sich in der Menge davon. Ragnhild war so fassungslos, dass sie stehen blieb und mit offenem Mund den wehenden Röcken der Flüchtenden nachstarrte.
Marga begriff als Erste, dass sie hier keine Antwort auf ihre Frage bekommen würden. Um sich und Ragnhild schnell aus der peinlichen Lage zu befreien, hakte sie sich bei ihrer Herrin und Freundin unter und führte diese in Richtung Berg. »Komm, lass uns gehen.«
Ragnhild ließ sich von Marga fortziehen, doch die Ratlosigkeit stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Was habe ich getan, dass niemand mit mir sprechen mag? Nicht einmal die geschwätzige Cruse ist stehen geblieben, hast du das gesehen?«
Die Magd antwortete nicht, denn auch sie hatte keine Erklärung für dieses merkwürdige Verhalten. Alles, was sie wollte, war Ragnhild von hier fortzubringen, und ihr erster Gedanke galt Agatha von der Mühlenbrücke. Bei Ragnhilds bester Freundin würden sie sicher Antwort finden. Gewiss hatten die Tratschereien der Weiber das Haus des besten Gewandschneiders der Stadt längst erreicht, denn wo versammelten sich die Frauen lieber als bei einem Schneider?
Nachdem Marga ihre Absichten kurz erklärt hatte, hasteten die Frauen, so schnell sie nur konnten, zu Agathas Haus. Den ganzen Weg über vermieden sie es, ihre Blicke zu heben; beide konnten sie die feindlichen Gesichter um sich herum kaum ertragen. Als sie endlich das steinerne Haus der Familie von der Mühlenbrücke erreicht hatten, zitterten ihnen die Knie.
Auf ihr kräftiges Klopfen hin wurde ihnen die Tür von der Magd des Hauses geöffnet, doch als diese sah, wer dort um Einlass ersuchte, warf sie den beiden Frauen einen abschätzigen Blick zu und sagte: »Es ist niemand zu Hause. Besser, Ihr geht wieder.«
Ragnhild und Marga waren wie vom Donner gerührt ob dieser Unverschämtheit. Es war absolut undenkbar, dass weder Voltseco noch Agatha zu dieser Tageszeit nicht da waren, und noch undenkbarer war es, dass es dieses freche Weib derart an Anstand fehlen ließ.
Gerade wollte die Magd ihnen die Türe vor der Nase zuschlagen, als Marga mit einer blitzschnellen Bewegung ihren Fuß in die Öffnung stellte und die Magd so grob beiseitestieß, dass diese den Halt verlor und auf ihren Hintern fiel. »Geh mir aus dem Weg, du freches Ding«, zischte sie wütend und betrat entschlossenen Schritts das Innere des Schneiderhauses.
Ragnhild folgte ihr verdutzt. Sie konnte nicht umhin, ihre Magd in diesem Moment für ihre Stärke zu bewundern. Sie selbst erlebte sich in schwierigen Augenblicken oft schwach und zögerlich, und auch wenn sie mit den Jahren immer mutiger geworden war, blitzte die alte Ragnhild oft noch durch.
Die Frauen
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