Tochter des Ratsherrn
kannten Agathas Haus so gut wie ihr eigenes. Zielsicher steuerten sie darum auf die Kammer hinter der Schneiderei zu, wo sie die Freundin um diese Zeit vermuteten. Sie sollten recht behalten.
Agatha stand in der Mitte des kleinen Raumes; den Rücken gestreckt, den hocherhobenen Kopf in Richtung Tür gewandt, die Arme gerade am Körper. Als Ragnhild und Marga eintraten, zuckte sie nicht einmal mit der Wimper.
Ragnhild blieb eine Mannslänge von ihrer Freundin entfernt stehen. Sie blickten einander wortlos an. Dann stellte Ragnhild Agatha eine Frage, in der tiefste Verletztheit mitschwang: »Du weist mich an deiner Türe ab? Lässt dich verleugnen, um mir nicht zu begegnen?«
Einen Moment lang wusste die Freundin nicht, was sie darauf erwidern sollte, war es doch genau so gewesen, wie Ragnhild gesagt hatte. »Ich … ich konnte nicht anders.«
»Was soll das heißen, Agatha? Warum meiden mich die Frauen auf der Straße? Warum meidest du mich?«
Blitzartig war es um die Fassung der Schneidersfrau geschehen. Dicke Tränen rannen ihr übers Gesicht, und ein herzzerreißendes Schluchzen ließ ihren Körper erbeben. »Du musst gehen, Ragnhild. Wenn Voltseco dich hier sieht, bin ich in Schwierigkeiten. Er hat verboten, dass du das Haus jemals wieder betrittst.«
Verwirrt wich Ragnhild einen Schritt zurück, doch dann ging sie wieder auf Agatha zu. »Was sagst du da? Aber … was habe ich denn bloß getan?«
Gerade als die Schneiderin antworten wollte, hörte sie die Stimme ihres Mannes, der in diesem Moment das Haus betrat. Kurz darauf ertönte das aufgebrachte Zetern der Magd.
»Großer Gott, nein. Die Magd, sie wird euch verraten!«, entfuhr es Agatha. »Schnell, durch die Schneiderei! Ich lasse euch dort hinaus.«
Die drei Frauen huschten zwischen den Rollen bunter Seide und den Stapeln groben Leinens hindurch bis zu einer kleinen Tür, die zum Hof des Hauses führte.
»Geht jetzt, schnell. Voltseco kann jeden Moment hereinkommen«, beschwor die Schneidersfrau ihre ungebetenen Gäste. Doch gerade als sie sich abwenden wollte, wurde sie von Ragnhild fest am Arm gepackt.
Sie brachte das Gesicht dicht an das ihrer Freundin und fragte mit einem eindringlichen Flüstern: »Agatha, verrate mir, warum die Leute mich meiden. Ich bitte dich, du musst es mir einfach sagen – unserer Freundschaft wegen!«
»Ragnhild, nicht jetzt!«
»Wann dann? Ich sage dir eines: Ich werde nicht gehen, bevor du mir gesagt hast, was ich wissen will, also rede besser schnell.«
Agatha schloss kurz die Augen und seufzte tief. »Weißt du das denn wirklich noch nicht?«
»Bei allen Heiligen, was weiß ich noch nicht?«
»Es ist wegen Albert.«
»Wovon redest du? Raus mit der Sprache, Agatha.«
»Er … er hat …«
»Rede endlich!«, befahl Ragnhild streng.
»Er hat den Rat betrogen und wurde daraufhin des Rates verwiesen. Ragnhild, ihr habt euer Ansehen verloren. Eure ganze Familie gilt nun als ehrlos.«
Langsam lösten sich Ragnhilds Finger von dem Arm ihrer Freundin. Ein gequälter Laut drang aus ihrem Mund.
»Es tut mir so leid. Ich kann dir nicht helfen. Ich darf dich eine Weile nicht mehr sehen.« Ein letztes Mal umarmte die Schneiderin ihre Freundin, das Gesicht nass vor Tränen, dann schob sie die beiden Frauen zur Tür hinaus.
Ragnhild war sprachlos. Stumm ließ sie sich von Marga auf die Straße ziehen. Die feindseligen Blicke der Weiber und die boshaft gezischten Bemerkungen nahm sie nicht mehr wahr, verspürte weder Ärger noch Scham. Sie fühlte gar nichts mehr. Mit aller Kraft versuchte sie ihre Gedanken zu ordnen. Das war also Alberts bitteres Geheimnis – nun wusste sie es. Mit vielem hatte sie gerechnet, doch niemals damit, dass er des Rates verwiesen worden war. Wie hatte es nur so weit kommen können? Was sollte nun aus ihnen werden? Ragnhild kannte keine Antworten auf diese Fragen. Alles, was sie wusste, war, dass sie recht behalten hatte. Vor einer Woche in der Diele waren ihre Tränen geflossen. Übermannt von dem unerklärlichen Gefühl, dass das Leben niemals mehr so sein würde, wie es vorher gewesen war, hatte sie sich an Alberts Brust gedrückt. Ja, sie hatte recht behalten!
Erst als sie die Reichenstraße bereits erreicht hatten, wurde Ragnhild aus ihren Gedanken gerissen. Vor dem Haus ihrer Tochter stand ein herrschaftlicher Pferdewagen, dem soeben Johanna und Freyja entstiegen.
»Was hat das zu bedeuten, Marga?«, fragte Ragnhild verwundert.
»Das weiß ich auch nicht. Aber wir sollten …«
In
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