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Tochter des Ratsherrn

Tochter des Ratsherrn

Titel: Tochter des Ratsherrn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Tan
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diesem Moment kam noch jemand aus dem Gefährt heraus. Es war der Hamburger Ratsnotar Johann Schinkel. Gleich nachdem seine Füße den Boden berührt hatten, drehte er sich um und half einer Frau aus dem Pferdewagen.
    »Runa!«, entfuhr es Ragnhild. Verwirrt beobachtete sie, was sich vor ihren Augen abspielte, und blickte zwischen dem Wagen und dem herbeieilenden Walther hin und her, der seiner Frau den Arm reichte. An dem gebückten Gang ihrer Tochter konnte Ragnhild sofort erkennen, dass es Runa nicht gut ging. Rasch wandte sie sich zu Marga um und sagte: »Ich muss mich um Runa kümmern. Bitte gehe zu Margareta und sage ihr, sie soll das Haus nicht verlassen. Ich möchte nicht, dass sie auf die gleiche Weise von der Schande ihres Vaters erfährt wie wir. Später werde ich es ihr erklären.«
    Marga nickte zum Zeichen, dass sie verstanden hatte. Doch noch ließ sie sich nicht abschütteln. Sie wusste, dass Ragnhild mit Walther und Runa über Albert würde sprechen wollen. »Du solltest es ihnen nicht sagen, bevor Albert es nicht selbst getan hat. Schon gar nicht in Runas Zustand.«
    Fast ärgerte sich Ragnhild darüber, dass Marga wie schon so oft in der Vergangenheit aussprach, was sie am liebsten verdrängt hätte. Die Magd schien ihre Gedanken lesen zu können. »Sei unbesorgt, Marga«, erwiderte sie daher nur und wandte sich ab. Noch bevor sie den Wagen erreicht hatte, war Johann Schinkel auch schon wieder darin verschwunden. Ragnhild sah, wie Walther Runa ins Haus führte. Nur wenige Augenblicke später schritt auch sie über die Schwelle und folgte den Stimmen, die aus der Schlafkammer drangen.
    »Runa, was ist passiert?«, fragte Walther eher streng als besorgt.
    »Ich weiß es nicht genau«, lautete Runas ausweichende Antwort. »Die Hitze, ich habe mich wohl überanstrengt.«
    »Das meine ich nicht!«, donnerte Walther plötzlich mit einer Heftigkeit, die Ragnhild vor der geschlossenen Türe erschrocken innehalten ließ. »Was ist in dem Pferdewagen passiert? Ich will es wissen, Runa!«
    »Gar nichts«, versicherte die Schwangere. »Johanna saß doch bei mir. Sie kann bezeugen, dass nichts Unsittliches geschehen ist.« Runas Stimme zitterte hörbar. Würde Ragnhild es nicht besser wissen, hätte sie schwören können, dass ihre Tochter log.
    »Was für ein glorreicher Einfall, Runa«, polterte Walther aufgebracht. »Ich soll also unsere stumme Magd befragen? Pah, ich glaube dir kein Wort.«
    Ragnhild war verwirrt. Sicher war es bedenklich, wenn eine verheiratete Frau mit einem fremden Mann in einem Wagen saß, doch der Ratsnotar war ein Mann der Kirche, und Runa hatte sich in Begleitung einer anderen Frau und ihrer Tochter befunden. Warum war Walther so erbost?
    »Zum letzten Mal, Runa: Was ist in dem Wagen passiert? Habt ihr miteinander gesprochen? Jedes Wort will ich wissen, und wenn du es mir nicht sagst, dann werde ich ihn selber fragen.«
    Runa begann zu weinen. »Walther, hör auf, mich so zu quälen. Was willst du von mir hören? Ich sage die Wahrheit. Kein Wort haben wir miteinander gesprochen.« Runa fühlte sich zu matt, um weiter auf die Fragen ihres Gemahls einzugehen. Sie wünschte sich nichts mehr, als endlich allein mit ihren Gedanken sein zu können.
    Es folgte ein langes Schweigen. Dann konnte Ragnhild hören, wie Walther begann, in der Kammer auf und ab zu gehen. So zornig hatte sie ihn noch nie erlebt. Vollkommen unerwartet vernahm sie plötzlich einen wutgeschwängerten Schrei und gleich darauf ein schepperndes Geräusch, welches eindeutig von etwas gewaltsam Geworfenem stammte. Dann folgte ein schweres Atmen. Walther war außer sich, doch er beruhigte sich wieder. Bald war nur noch das Schluchzen ihrer Tochter zu vernehmen.
    »Sag mir, Runa, wie soll ich dir glauben? Ich habe es gesehen. Eure Augen haben euch verraten. Er hat dich angeschaut wie damals vor sieben Jahren, als ich um deine Hand angehalten habe. Und du, du hast ihn angesehen, wie du mich noch niemals angesehen hast. Ich weiß, dass du ihn noch immer liebst, und ich weiß, dass diese Liebe nicht vergehen wird. Niemals wird mir dein Herz gehören, wie mir dein Leib gehört. Du hast es ihm geschenkt, obwohl ich nichts auf der Welt mehr begehre als dich. Wie also soll ich dir glauben?«
    Runa hatte aufgehört zu weinen, doch ihr Schweigen war Antwort genug. Noch vor wenigen Augenblicken hatte Ragnhild gedacht, dieser Tag könne nicht mehr schlimmer werden, doch sie hatte sich bitterlich geirrt. Schon lange hatte sie vermutet,

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