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Tochter des Windes - Roman

Tochter des Windes - Roman

Titel: Tochter des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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festgeklebt. Ich holte mit steifen Fingern meinen kleinen Japan-Guide aus der Tasche und studierte die Landkarte. Tashiro-Jima, wo zum Teufel befand sich das? In den hohen Bäumen krächzten die Krähen, flatterten wie große schwarze Tücher durch die eisige Luft. Sie gefielen mir irgendwie nicht. Krähen gab es in jedem japanischen Park, warum kamen mir ihre Schreie so misstönend vor? Es lag eine Dringlichkeit in ihrem Krächzen, als ob sie eine Warnung in die dunkle Luft schleuderten.
    Inzwischen hatte Mia ihr Gespräch beendet und lief mir entgegen. Sie war so aufgeregt, dass sie kaum sprechen konnte.
    Â»Du, das stimmt! Onkel Matsuo hat die Schriftrolle! Er sagt, dass er sie nie aus der Hand gegeben hat. Jetzt geht es
ihm noch gut, aber in seinem Nachlass hat er sie dem Nationalmuseum für Japanische Geschichte in Sakura vermacht. Normalerweise, sagt er. Aber seine Schwester Azai sei auch mit hundertacht noch bei Verstand. Wenn sie mir also das Dokument geben will, soll ich es holen kommen. Es sei ja schließlich ein Familienstück.  – Ich muss unbedingt zu ihm!«, setzte sie hinzu, »sonst schlafe ich die ganze Nacht nicht.«
    Â»Wenn wir schon auf halbem Weg sind«, meinte ich. »Wie kommen wir zu dieser Insel?«
    Ich war gar nicht erfreut, aber ich ließ es mir nicht anmerken. Selbst schuld, dachte ich matt.
    Â»Eine Stunde mit dem Zug«, sagte Mia. »In Ishinomaki müssen wir dann die Fähre nehmen. Soweit ich das im Kopf habe, dauert die Überfahrt auch eine Stunde. Ungefähr. Warte, ich muss mich schlaumachen.«
    Sie gab den Fahrplan ein. Ihre Brauen waren gerunzelt, ihr Gesicht in der Kälte fast weiß.
    Â»Der nächste Zug geht in vierzig Minuten«, sagte sie. »Das schaffen wir, kein Problem. Aber die letzte Fähre erwischen wir nicht mehr. Wir könnten in Ishinomaki übernachten und morgen früh das Schiff nehmen.«
    Ich erklärte mich einverstanden, hatte aber das Gefühl, dass wir unausweichlich Ereignissen entgegensteuerten, die mir nicht geheuer waren. Aber Mia hatte nur den Bauplan im Kopf, und eigentlich freute ich mich, sie so voller Begeisterung zu sehen. Die Sache wurde ja auch für mich immer spannender. Wir kehrten also zum Bahnhof zurück. Mia gelang es, ein Taxi zu ergattern, sodass wir Zeit hatten, die Fahrkarten zu lösen. Und auch Zeit genug, um die Reservierungen im Shinkansen zu stornieren und auf den nächsten Tag zu verbuchen. Japaner nahmen diese Formalitäten akribisch ernst, man konnte nicht einfach in einen Zug springen
und auf einen Platz hoffen. Dazu war nur ein einziger Wagen vorgesehen  – für jene, die zu spät kamen und im Drängeln und Quetschen geübt waren. Und im Allgemeinen galt: Ordnung muss sein!
    Die Sonne sank bereits. Die winterliche Landschaft glich einer Collage aus vertrauten Bildern, die alle irgendwie mit Erinnerungen und heimatlichen Landschaften verbunden waren. Wäre nicht das Meer gewesen  – eine kobaltblaue, weiß gesprenkelte Fläche  –, hätte ich glauben können, durch den Schwarzwald zu reisen. Die Hügel, die fernen Berge, die Tannengruppen kamen mir ebenso bekannt vor wie die dunklen Wälder, von den letzten Sonnenstrahlen vergoldet, die schrägen Dächer der ländlichen Holzhäuser mit ihrer Schneelast. Außerhalb der Siedlungen kehrten Familien von ihren Ausflügen heim, die Eltern zogen Schlitten, auf denen die Kleinen saßen. Hunde sprangen herum. Langläufer waren auf dem Heimweg. Eine Winteridylle. Doch der Anblick deprimierte mich, statt mich heiter zu stimmen. Mein Kopfweh setzte wieder ein, ein schmerzhaftes Pochen innerhalb der Schädeldecke. Ich hatte selten derart starkes Kopfweh erlebt. Ich freute mich nur noch auf ein heißes Bad  – und dann schlafen und den Schmerz vergessen.
    In der kleinen Stadt Ishinomaki fanden wir einen Ryokan , eine japanische Herberge. Ich mochte solche Gasthäuser sehr; und es machte auch nichts, dass wir kein Gepäck dabeihatten. Der Ryokan stellte den Gästen alles zur Verfügung, was sie benötigten, von der Zahnbürste bis zum Nachtzeug. Das Haus war gut geführt und hatte eine ganz eigene, liebenswerte Atmosphäre, die noch den Hauch vergangener Jahre ahnen ließ. Es gab nur wenige Möbel, eine kleine Kommode und einen niedrigen Frisiertisch mit einem dreiteiligen Spiegel, das Ganze mehr wie eine

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