Tochter des Windes - Roman
plapperten misstönend. Mir kam in den Sinn, dass Mafalda, wenn sie etwas nachdrücklich genug erreichen wollte, eine Strategie entwickelte. Katzen tun alles mit Absicht; dass wir in ihrem Verhalten oft keinen Sinn erkennen können, ändert nichts an ihrem Vorhaben. Und diese Katzen da  â Mokka und Praline  â wollten uns ganz nachdrücklich etwas mitteilen. Etwas, das wir noch nicht verstanden hatten.
Hatsue brachte Tee, den Matsuo genüsslich schlürfte. Er überreichte mir seine Visitenkarte, und ich wollte ihm meine geben, hatte aber die Brieftasche in meiner Daunenjacke gelassen, die im Eingang hing. Ich wollte aufstehen und sie holen, doch Matsuo sagte, es eile doch nicht. Er stellte mir zunächst höfliche Fragen zu meiner Person und zu meinem Beruf. Dass ich ein Buch über die erblichen Fähigkeiten des Gehirns schreiben wollte, interessierte ihn natürlich sehr. Ich erzählte ein wenig, und er nickte dann und wann. Er sprach ruhig und bedächtig, ohne jegliche Ãberheblichkeit. Er war vielseitig interessiert, neugierig auf die Erfahrungen der anderen. Er spürte die Richtung, in der ich mich vorwagte. Ich sprach über die Rolle der Gene, die ja nicht direkt verantwortlich waren für bestimmte Eigenarten unseres Verhaltens, sondern lediglich den ersten Schritt von vielen komplexen Entwicklungsstufen darstellten. Ich spürte, wie ich ins Dozieren kam; ich war ohnehin überdreht, während Mia, die nur den Bauplan im Kopf hatte, meinen Redefluss ungeduldig lächelnd ertrug und Hatsue sich in der Küche zu schaffen machte.
»Wenn Sie die Windmenschen als Beispiel nehmen wollen«, sagte Matsuo, als ich nach einiger Zeit wieder Luft holte, »haben Sie die richtigen Objekte gefunden. Für den Durchschnittsbürger haben wir auch heute noch einen mysteriösen Aspekt.«
Mysteriös? Bei dem Adjektiv rieb ich mir freudig die Hände. Ja, ja, es reizte mich ja gerade deswegen, mehr zu erfahren.
Matsuo zeigte ein kleines Lächeln.
»Nun, der Begriff âºfolkloristischâ¹ würde auch passen. Tatsache ist, dass unsere Vergangenheit ihre Spuren im Blut hinterlassen hat. Wir waren, wie Sie wissen, Spione, vermutlich die besten der Welt. Ein guter Spion wird, wer seine Arbeit präzise plant, genau ausführt und ständig überprüft. Spione wollen am Leben bleiben. Wer sein Metier nicht beherrschte, starb früh. Im Laufe unserer Entwicklung haben wir viel Flexibilität erworben, was uns heutzutage in manchen Bereichen, namentlich in der Wissenschaft, dazu bringt, immer wieder neue Lösungen auf neue Herausforderungen zu suchen. Manches Aufsehenerregende ist schon geschehen, selbst für den Nobelpreis ist schon einer von uns vorgeschlagen worden.«
Ich war ganz Ohr, dachte fast kaum noch an meine Kopfschmerzen. Es lohnte sich sehr für mich, da zuzuhören.
»Nehmen wir den Arztberuf«, sagte Matsuo. »Im Grunde waren wir Quacksalber. Aber wir hatten viel Wissen zusammengetragen, und wir waren gute Heiler. Das gab uns einen gewissen Einfluss. Wir kannten uns in allen möglichen Präparaten aus. Auch in Giften natürlich, sonst taugte ein Heiler nichtsâ¦Â« Matsuos Augen blitzten vergnügt. »Und nicht selten wurde unser Wissen tatsächlich genutzt, um jemanden umzubringen!«
Matsuo erzählte, dass im achtzehnten Jahrhundert die Holländer nach Nagasaki gekommen waren. 1774 übersetzten zwei Mediziner ein Werk der Anatomie aus dem Holländischen ins Japanische. Von da an wurde  â mit diskreter Unterstützung der Regierung  â das Studium holländischer Medizinbücher erlaubt.
»Und danach«, sagte Matsuo, »dauerte es nicht lange, bis all das, was die Fremden über Medizin wussten, auch wir wussten. Wir waren eben sehr lernfähig.«
Der alte Mann genoss offenbar das Gespräch. Er war auf seine friedliche Weise ebenso redselig wie seine Schwester Azai. Mia jedoch, die dann und wann verstohlen auf die Uhr sah, lenkte ihn höflich auf den eigentlich Grund unseres Besuches.
»Wie alt warst du, Onkel Matsuo, als Jan Letzel zu dir in die Praxis kam?«
»Oh, er kam doch nicht zu mir«, sagte Matsuo. »Er kam zu meinem Vater. Ich war ein Kind und entsinne mich kaum an ihn. Aber Azai erinnert sich noch gut.«
Ich sah den Augenblick gekommen, ihm zu berichten, wie ich ihre Tagebücher gefunden hatte. Das
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