Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tochter des Windes - Roman

Tochter des Windes - Roman

Titel: Tochter des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
Vom Netzwerk:
interessierte ihn mächtig. Sogar Hatsue verließ die Küche und gesellte sich zu uns, mit einem fassungslosen Ausdruck auf dem Gesicht.
    Â»Und sie hat Ihnen diese persönlichen Dinge erzählt? Das wundert mich aber.« Der alte Mann nickte vor sich hin. »Ja, das wundert mich außerordentlich.«
    Â»Ja, sie erzählte uns all das fast wie in einem einzigen Atemzug«, sagte Mia. »Sie hatte uns allerdings verboten, sie zu unterbrechen.«
    Der alte Mann ließ ein kleines heiseres Lachen hören.
    Â»Sie ist das arroganteste Weibsstück, das ich je in meinem Leben gekannt habe. Schau mich nicht so an, Hatsue! Du weißt, dass es die Wahrheit ist. Vor ein paar Jahren erlitt sie einen kleinen Schlaganfall und konnte nicht mehr in ihrem Haus bleiben. Ich machte das Heim für sie ausfindig, in dem sie jetzt ist. Jede Familie hütet ihre Geheimnisse, und meine Eltern hatten mir, als ich Student war, erzählt, dass wir von hoher Abstammung seien. Doch wir sprachen nicht darüber. Es war nicht nutzbringend, dass es bekannt wurde. Wir hatten
eine Tradition der Verschwiegenheit. Außerdem wäre es vermessen gewesen. Windmenschen waren keine Aristokraten, und in hohen Kreisen mischte man sein Blut nicht mit Untergebenen. Das brachte Unordnung in den Stammbaum. Weil man das in China vermeiden wollte, wurden alle kaiserlichen Beamten kastriert. Nun, Verstümmelungen wurden hierzulande nicht goutiert. Was Yodo-dono betraf  – sie war, wie man weiß, ein Dickschädel. Und die Sache mit dem Bauplan … nun, die zeigt uns einfach eine zusätzliche Dimension der Wirklichkeit«
    Â»Und Tante Azais Visionen?«, fragte ich. »Sind die echt? Ich meine, können wir ihr glauben, wenn sie solche Dinge erzählt?«
    Die Runzeln auf Matsuos Stirn vertieften sich. Es war, als ob die buschigen Brauen fast die Pupillen verdeckten. Schließlich dehnte ein langer Atemzug seine Lungen.
    Â»Nun, ich bin Wissenschaftler, aber ich weiß, dass es ein Anderes gibt, das wir nie werden erklären können, da es sich unserer Definition entzieht. Und wenn Azai etwas gesehen haben will, verlassen wir uns sicherheitshalber nicht allzu sehr auf ihre Worte. Aber bewundern wir zumindest ihre Vorstellungskraft!«
    Die bewunderte ich durchaus. Aber mein Rätsel war dadurch nicht gelöst. Ich hatte mein ganz privates Phantom, das irgendwie in meine Traumkiste gerutscht war, wo es absolut nicht hingehörte, und sich recht dreist in mein Privatleben eingemischt hatte. Doch Matsuo fügte etwas hinzu, was mich daran erinnerte, dass man eben doch nicht alles klären konnte.
    Â»Ob wir es wollen oder nicht, wir Menschen sind mit spinnwebenfeinen Fäden miteinander verbunden. Als ob eine Weberin irgendwo in einem ›Land dazwischen‹ die Fäden verknoten würde. Denken Sie also nicht zu viel darüber nach.«

    Es klang zwar wie eine Floskel, hörte sich aber so richtig schön esoterisch an und war kein Hindernis für die Reflexion. Ich kam dem Mann nicht mit einem kritischen: »Ja, aber …« Was ich in Japan gelernt hatte, war, die verschiedenen Arten von Unmöglichkeiten vorherzusehen zu versuchen, auf die ich mich vernünftigerweise gefasst machen musste. Das Undenkbare konnte existieren, es konnte sogar unter unseren Augen geschehen. Und wenn es geschah, sollten wir uns nicht blind davon abwenden, sondern es zu begreifen versuchen. Vielleicht war es genau das, was Tante Azai gemacht hatte.
    Hatsue war inzwischen wieder in die Küche gegangen, die eng und altmodisch war. Sie stand vor der Arbeitsplatte, zerstückelte und würfelte Gemüse. Die Messerklinge sauste in regelmäßigen Abständen auf das Hackbrett. Dabei hielt sie den Kopf leicht geneigt und hörte zu, was im Wohnzimmer gesprochen wurde. Zwischendurch warf sie immer wieder eine Handvoll klein geschnittenes Gemüse in einen großen Topf auf dem Herd.
    Â»Du bist also gekommen, um den Bauplan zu holen?«, sagte Onkel Matsuo zu Mia. »Nun, du kannst ihn haben. Du und Isao, ihr seid meine Erben, und das Dokument gehört zu meinem Nachlass. Was ihr später damit macht, ist mir egal. Ich befürworte allerdings das Museum. Die Schriftrolle ist leider in schlechtem Zustand. Im Museum haben sie die geeigneten Spezialisten.«
    Mia verneigte sich, graziös, und wie es sich gehörte. Sie war echt ergriffen.
    Â»Ich danke dir von Herzen, Onkel

Weitere Kostenlose Bücher