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Tochter des Windes - Roman

Tochter des Windes - Roman

Titel: Tochter des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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Zeitlupentempo schwankten, tief nach rechts, tief nach links. Und sich dann wieder  – wie durch ein unbegreifliches Wunder  – aufrichteten.
    Â»O Gott!«
    So was hatte ich noch nie gesehen. Ich betrachtete die Szenen
nur einige Sekunden lang, bevor ich mich abwandte. Mir wurde schwindelig.
    Â»Nicht jetzt, Mia, bitte …«
    Â»Ich mache mir Sorgen um Isao«, sagte sie. »Ich kann ihn nicht erreichen! Weder zu Hause noch im Büro …«
    Sie gab erneut die Nummer ein, sah auf das kleine Display, schüttelte nervös den Kopf.
    Â»Nichts! Ich kriege keine Verbindung …«
    Eine ältere Frau stapfte zu uns, ließ sich schwerfällig neben Hatsue nieder. Hatsue nahm ihre Hand, tätschelte sie mütterlich.
    Â»Nicht verletzt, Oshiba-San?«
    Â»Von Wunden nicht.«
    Die Frau strich sich ihr zerzaustes graues Haar aus den Augen. Ihre Stimme war ebenso ruhig wie die von Matsuo. »Ich habe schon Katastrophen gesehen … aber solche Wellen, nein, noch nie! Man sagt, dass die erste Welle vierzig Meter hoch war.«
    Ich versuchte es mir vorzustellen. Es überstieg meine Fassungskraft.
    Â»Die ganze Küste von Sanriku liegt unter Wasser«, fuhr Oshiba-San mit gleichmäßiger Stimme fort. »Ishinomaki und die umliegenden Dörfer wurden zerstört. Es ist wirklich schwierig, sich das vorzustellen. Aber man sieht ja den Rauch …«
    Sie streckte die Hand aus. Ich folgte ihrem Blick. Durch die Lichtung sah ich das Meer, dieses unbekannte, grauenhafte Meer, übersät mit Trümmern, das sich schwarz und schäumend hob und senkte. Manchmal, durch die Wellentäler, sah ich Teile der Küste, und mir schien, dass das Land selbst sich verändert hatte. An vielen Stellen stieg dunkelgrauer Rauch auf. Mein Bauch zog sich vor Entsetzen zusammen. Da waren ganze Städte, die brannten.

    Die Frau sprach weiter, ruhig, so ruhig. »Ich habe gehört, das Meer ist bis nach Sendai gekommen. Viele Stadtteile stehen unter Wasser, der Flughafen ist überschwemmt. Es soll Tausende von Toten geben.«
    Atemnot hinderte die Frau daran weiterzusprechen. Mia schluckte schwer.
    Â»Viele, viele Zerstörungen …«, murmelte die alte Frau, als ob sie zu sich selbst sprach. »Und in Fukushima wurde das Atomkraftwerk beschädigt …«
    Fukushima? O Gott! Wir waren auf dem Weg nach Sendai an der Ortschaft vorbeigefahren. Das Atomkraftwerk war deutlich sichtbar gewesen. Wenn der Reaktor explodierte, würde ganz Tohoku radioaktiv verseucht werden. Ich wagte die Befürchtung nicht auszusprechen, doch Mia war Realistin.
    Â»Der Niederschlag würde auch Tokio nicht verschonen. Neunzig Kilometer, das ist doch keine Entfernung…«
    Tokio hatte dreizehn Millionen Einwohner. Was mit diesen Menschen geschehen konnte, war nicht auszudenken.
    Meine Kehle war wie zugeschnürt. Eine Zeit lang war das Leben so leicht, so angenehm oberflächlich gewesen. Das Schicksal, dachte ich, geht ganz andere Wege als wir und bewegt sich auch Lichtjahre von unseren Wünschen entfernt. Durch Naturkatastrophen spricht das Unfassbare zu uns, es lässt sich wohl denken, dass es die Menschen verändert. Nachträglich kam es mir wie ein Wunder vor, dass wir überhaupt noch da waren. Doch im Augenblick nahmen wir nur auf, was wir mit Sicherheit sahen. Das Ausmaß der Tragödie konnten wir nur ahnen, als es völlig dunkel wurde. Die vertrauten Lichter der Küste, der vorbeiziehenden Schiffe, waren erloschen. So weit das Auge reichte, war nur Finsternis, übersät mit Bränden, als ob das Meer selbst in Flammen stand. Es mussten brennende Trümmer sein, die mit der Strömung auf
und ab schaukelten. Ich entsann mich an die Küste von Sanriku mit ihren hübschen, liebevoll gestalteten Kleinstädten, an den bunten und geschäftigen Hafen, an die Herberge, in der Mia und ich die Nacht verbracht hatten. Die Hunde hatten gejault, die Hähne gekräht, uns aber hatte kein Signal erreicht, das wir hätten deuten können. Wir waren Menschen, und die Logik unserer Gedanken stand uns im Weg.
    Was mir in dieser Waldlichtung auffiel, war die Stille, dieses dumpfe, ergebene Schweigen, die leise Geschäftigkeit. Man hörte fast nur die Geräusche der Natur: Wasser und Wind brausten, die Bäume bogen sich mit Rauschen und Knarren. Einige weinende Kleinkinder wurden getröstet, bis sie einschliefen.

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