Tochter des Windes - Roman
stammelte Mia.
Irgendwo, weit weg, sprach eine Stimme, die sich überschlug.
»Isao! Wo bist du?«, rief Mia. Ihre verstörten Augen leuchteten in der Dunkelheit. Isaos Stimme, die mit groÃer Dringlichkeit sprach, klang aus weiter Ferne. Mia antwortete schnell und atemlos. Ihr hastiger Atem stand wie eine kleine weiÃe Wolke vor ihrem Gesicht. Das Gespräch wurde immer wieder unterbrochen, die Verbindung wurde schwächer, Isaos Stimme war kaum noch hörbar, bis sie abrupt erlosch und Mia verzweifelt auf den dunklen Bildschirm starrte.
»Ist Isao o.k.?«, fragte ich. »Was hat er gesagt? Warum hat er bisher nicht angerufen?«
»Er konnte nicht. Er saà fest.«
Mias Stimme schwankte zwischen Bestürzung, Erleichterung und einer Art nervösem Gelächter.
»Er saà fest? Wo denn?«, fragte ich.
»Im Lift. DrauÃen an der Hauswand.«
»O Gott!«, stöhnte ich.
Schaudernd erinnerte ich mich an die gläsernen Kästen, die uns nach oben brachten, während sich das Panorama Tokios spektakulär vor unseren Augen entfaltete. Ich wischte mir den kalten Schweià von der Stirn, wobei ich mit den Zähnen klapperte. Was hast du auf dieser gottverdammten Insel zu suchen, Rainer?
Mia sprach weiter:
»Isao kam gerade mit Masahiro aus der Caféteria. Sie waren schon im Lift, als der erste Stoà kam. Sie versuchten, die Türen zu öffnen, aber es war schon zu spät. Der Lift blieb stecken. Sie spürten, wie das Gebäude sich bewegte, und sahen alle Hochhäuser schwanken.«
Davon werde ich träumen, dachte ich. Reden konnte ich nicht. Ich konnte nur den Kopf schütteln.
»Und dann ging der Strom aus, und sie saÃen fest. Stundenlang. Das Handy konnten sie nicht gebrauchen. Erst jetzt gelang es den Technikern, die Türen zu öffnen und die Eingeschlossenen zu befreien. Isao sagt, dass in ganz Tokio und Umgebung Tausende in Aufzügen festsaÃen. Es war ja kurz vor Büroschluss. In Tokio funktioniert ja gar nichts mehr, kein Strom, kein Licht. Keine U-Bahn verkehrt, manche stecken in einem Tunnel. Das ganze Schienennetz ist lahmgelegt. Isao ist vor Sorgen fast verrückt geworden. Ich habe ihm mitgeteilt, wo wir sind.«
»Und was hat Isao gesagt?«
»Dass er sich als Freiwilliger beim Rettungsdienst gemeldet hat. Er kommt, sobald er kann.«
»Mit dem Hubschrauber?«
»Ja, aber dazu braucht er eine Einsatzgenehmigung. Und das geht nicht so schnell. Die Behörden sind völlig durchgeknallt. Die verstehen verdammt viel von Vorschriften und verdammt wenig von Katastrophen. Es ist ein Skandal!«
Es blieb uns nichts anderes übrig, als zu warten. Als Nächstes stellte sich der Gedanke an meine Mutter ein und machte mir schwer zu schaffen. Wahrscheinlich starrte sie gerade auf schreckliche Fernsehbilder und sah mich als Leiche in der Brandung treiben. Gerade hatte ich ihr eine SMS geschickt, ihr mitgeteilt, dass ich wohlauf war, als die Erde sich erneut bewegte. Ein langsames Schaukeln, hin und her. Es fühlte
sich an, als ob sich die Insel tief unten verflüssigte und mit Meer vermengte. Die Katzen fuhren hoch, wachsam, mit gesträubtem Fell.
»Ein Nachbeben«, sagte Mia, und krallte sich an mir fest.
Das Nachbeben dauerte zwei Minuten. Mindestens. Zwei Minuten können endlos lang sein. Ich biss die Zähne zusammen. Sei kein Waschlappen, Rainer. Besser, man macht sich in die Hose, als dass man seine Mitmenschen mit Geschrei in die Luft jagt. Geschrei nützt nichts und macht nur die Leute konfus. Wenn alle ruhig bleiben, geht alles besser. Wir warteten also, bis es vorüber war. Nachbeben gab es noch verschiedene, schwächere, bis es Tag wurde und das unbarmherzig helle Licht die Zerstörungen zeigte  â und ich auf meinem iPod Mutters Antwort auf meine SMS vorfand.
»Komm sofort nach Hause!«
34. Kapitel
D ie Ungewissheit über das Ausmaà der Zerstörungen hatte die Bewohner die ganze Nacht über gequält. Als es hell genug war, machten sich ein paar Leute auf den Weg ins Dorf. Auch Matsuo ging mit. Es fehlte an Medikamenten und Verbandszeug. Matsuo wollte wissen, was von der Krankenstation noch übrig war. Mia und ich begleiteten ihn. Wir gingen bergab wie durch einen makabren Traum. Raben und Möwen kreisten schreiend am dunstigen Himmel, während Männer und Frauen in den Trümmern ihrer Häuser Dinge suchten, die sie noch
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