Tochter des Windes - Roman
herunter; man hatte ihr das Hosenbein aufgeschnitten, um die Wunde zu pflegen. Onkel Matsuo, nahm ich an. Er hatte mit zwei Stöcken das Bein provisorisch geschient, vom Oberschenkel bis zum FuÃ. Die Fraktur war mit einem Schal und einem Sockenpaar notdürftig gepolstert und mit einem Hemd befestigt worden. Die Ãrmel waren einfach um die Wunde gewickelt und geknotet. Aber das Blut hatte bereits den dünnen Verband getränkt, der zersplitterte Knochen zeichnete sich deutlich ab. Bei dem Anblick wurde mir erneut übel. Mia legte ihre Hand auf die der alten Frau. Hatsue antwortete mit leichtem Druck, bevor sie wieder die Augen schloss. Mia nickte mir zu.
»Einige Leute haben ihre Notfallapotheke dabei. Onkel Matsuo konnte ihr eine Schmerztablette geben. Mehr kann er nicht tun. Der Damm ist gebrochen, der untere Teil der Insel wurde überschwemmt. Keiner weiÃ, ob die Krankenstation noch steht.«
»Wo ist Onkel Matsuo?«, fragte ich.
Sie machte ein unbestimmtes Zeichen.
»Irgendwo. Er kümmert sich um die Verletzten.«
Mein Augenlid hing irgendwie schlaff. Ich tastete mit der
Hand über meine geschwollene Stirn, wo der Schmerz gleichmäÃig pochte. Auf der Schwellung spürte ich die aufgeplatzte Haut. Ich versuchte, umherzublicken, obwohl ich alles nur verschwommen sah. Rote Pfosten leuchteten matt im Helldunkel der hereinbrechenden Nacht. Der Sturm zerrte wild an einer Schnur aus Reisstroh, an der einige weiÃe Papierfetzen hingen. Ich murmelte: »Der Katzenschrein.«
»Sie sind alle hier«, sagte Mia, »unter den Büschen versteckt, irgendwo. Sie wussten, dass der höchste Punkt der Insel verschont bleiben würde. Katzen wissen solche Dinge, ne?«
Möglicherweise, dachte ich, haben Katzen keine Vorahnungen. Aber ihre feinen Sinne spüren die Gefahr, und sie wissen, wohin sie fliehen müssen, um die eigene Haut zu retten.
»Als alle Katzen zum Schrein liefen und ihre Kleinen mitnahmen, haben die Leute gemerkt, dass Gefahr drohte. Ich glaube, die Katzen haben uns gerettet. Mokka und Praline gebärdeten sich wie toll. Hatsue hat Angst bekommen. Onkel Matsuo hatte vorher nie Katzen gehabt. Er sagte, das ist doch Unsinn. Aber dann haben wir vom Fenster aus gesehen, wie die Leute den Berg hinaufliefen. Und die Nachbarin, Oshiba-San, hat aufgeregt an die Tür geklopft. Alle Katzen, ausnahmslos, seien geflohen! Und als Hatsue mit der Nachbarin sprach, sind auch Mokka und Praline wie verrückt zum Katzenschrein gerannt. Hatsue hat die Haustür abgeschlossen, und wir sind auch gegangen. Aber ich habe gesagt, ich gehe zuerst zum Hafen und hole Rainer. Geht schon mal! Wir kommen dann nach. Und gerade als ich das sagte, bebte die Erde. Eine Spalte tat sich mitten auf der StraÃe auf, Hatsue stürzte, wir konnten sie nicht rechtzeitig halten. Sie war in der Spalte eingeklemmt. Ein Mann half uns dann, sie rauszuziehen, und half auch Onkel Matsuo, sie den Berg hinaufzutragen.
Aber da ging schon das Wasser im Hafen zurück, und die Sirene gab Tsunami-Alarm. Aber das war mir egal«, stammelte Mia unter Tränen. »Ich bin zurückgerannt, weil ich dich finden musste!«
Ich schloss sie in die Arme, wir zitterten beide, wir sprachen und bewegten uns nicht, bis wir uns beruhigt hatten. Da legte sich eine Hand auf meine Schulter. Matsuo. Der alte Mann wirkte seltsam ruhig.
»Verletzt?«, fragte er.
Er beugte sich zu mir hinab und besah sich die Wunde. Es gab noch einen Schimmer von Tageslicht. Ich spürte seine empfindsamen Finger, die über die Verletzung strichen, nur ganz leicht, aber es tat höllisch weh. Ich zuckte zusammen, als er das geschwollene Lid hob, um mein Auge zu betrachten.
»Gehirnerschütterung«, sagte er. »Es hätte schlimmer sein können. Bleib ruhig liegen!«
Er entfernte sich, und ich lieà mich ächzend wieder zurückfallen. Kein Schädelbruch also, zum Glück.
»Was ist in Tokio passiert?«, murmelte ich. »WeiÃt du das?«
Sie klaubte ihr Smartphone aus der Tasche.
»Schlimm«, sagte sie. »Die Hochhäuser haben geschwankt. Es gibt keine Elektrizität mehr. Alle Züge stehen, der Verkehr ist zusammengebrochen.«
Mir ging durch den Kopf, dass Mias Glaspalast wahrscheinlich auch hin und her geschwankt hatte. Nur bei dem Gedanken wurde mir erneut übel.
Mia hielt mir ihr Smartphone hin. Ich sah auf dem Bildschirm, wie die Wolkenkratzer im
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