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Tochter des Windes - Roman

Tochter des Windes - Roman

Titel: Tochter des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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Fast alle, die hier waren, hatten ihre Häuser verloren; es gab aber auch jene, die ihre Angehörigen vermissten, von denen sie  – in den meisten Fällen  – ohne Nachrichten waren. Wenn einmal ein Handy klingelte, erklang irgendeine skurrile Melodie, die sich in dieser Situation nahezu surreal anhörte. Dann und wann gab es einen kurzen, erlösten Aufschrei. Erstickte Worte überschlugen sich. Kinder oder Angehörige meldeten, dass sie in Sicherheit waren. Doch einige warteten vergeblich auf ein Lebenszeichen, und manche, die schlechte Nachrichten erhalten hatten, weinten still vor sich hin. Bei manchen Handys war der Bildschirm schon dunkel. Erst bei Tageslicht konnten die Batterien wieder aufgeladen werden. Die Bewohner von Tashiro-Jima lebten nicht hinter dem Mond: In ihren stets bereiten Fluchtrucksäcken befanden sich Solarmodule zum Laden von Handys und iPods, und selbst alte Leute wussten mit ihnen umzugehen. Die Fischer in ihren altmodischen Kuttern stachen nie ohne ihre Ladegeräte in See. Wir hatten zwar Winter, das Wetter war düster, aber die Solarmodule nutzten jede Lichteinwirkung. Das hatte nicht nur Vorteile: Schlimm war es, wenn auf den Bildschirmen die Szenen der Katastrophe
erschienen, wie sie per Satellitenfernsehen ausgestrahlt wurden. Dies war kein Kino, dies war brutalste Wirklichkeit. Der Weltuntergang.
    Lichter aus kleinen Notvorrat-Taschenlampen hüpften unentwegt durch die Finsternis. Die Überlebenden rückten enger zusammen. Notvorräte wurden geteilt. Jeder gab, was er hatte: Thunfisch in Dosen, Chips, Energy-Food, Mineralwasser. Jene, die warme Kleider hatten, teilten sie mit anderen, die für die Nacht zu leicht angezogen waren. Im Schutz der Schreinpfosten, wo es windstill war, wurde eine Plastik-Schutzhülle auf dem Boden ausgebreitet. Hier waren die Verletzten ein wenig geschützt. Im Schein der Taschenlampen sah ich Onkel Matsuo ruhig und effizient von einem Verwundeten zum anderen gehen. Ein Mann hatte ein Feuerzeug bei sich und versuchte ein Feuer zu entfachen, doch das nasse Holz brannte schlecht, starker Rauch ließ uns husten. Am Ende gab der Mann es auf, obwohl es mit fortschreitender Nacht immer kälter wurde. Und da geschah etwas sehr Seltsames. Etwas, das ich zum ersten Mal miterlebte und das mir später, als ich darüber sprach, von vielen zunächst nicht geglaubt wurde. Denn als die Temperatur den Gefrierpunkt unterschritt, kamen die Katzen aus ihren Verstecken hervor. Sie suchten die Nähe der Menschen, die sie alle kannten, weil sie von allen gefüttert wurden, kuschelten sich an sie und wärmten sie mit ihren Körpern. Und es wunderte mich nicht, dass auch Mokka und Praline lautlos angeschlichen kamen, sich an Hatsues Flanken legten, sich so lang machten, wie es nur ging, um sie zu wärmen. Wie die meisten Inselkatzen waren auch Mokka und Praline große, wohlgenährte Tiere, die viel Wärme gaben. Ihre Gegenwart wirkte tröstlich, und nach einer Weile sahen Mia und ich, das Hatsue eingeschlafen war. Und so geschah es, dass Menschen und Tiere einen Kreis bildeten, sich gegenseitig wärmten und beruhigten.
Was mich in Erstaunen versetzte, war die Disziplin, mit denen die Menschen ihr Schicksal trugen. Einzig jene, die Angehörige vermissten, weinten still. Es lag etwas unendlich Hilfloses, Resigniertes, in diesen Tränen. Die meisten Überlebenden schwiegen, in sich zusammengekauert. Sie schienen sich kaum bewegen zu wollen, als ob sie zunächst in sich selbst neue Kräfte finden mussten, bevor sie fähig waren, das Leben wieder aufzunehmen, ohne an ihrem Schmerz zu zerbrechen. Ihre Angst war so groß gewesen, eine unbeschreibliche, ohnmächtige Angst; wie sollten sie im Licht der Sonne einander ins Gesicht sehen? Wie sollten sie nach dieser Nacht ihr Leben wieder aufnehmen? Was für ein Leben sollte das sein? Warum hatten sie sich diese zwecklose Mühe gemacht, ein Dorf zu bauen, ihre Gärten zu pflegen? Würden sie weiterleben können bei den vielen Unglücken, deren Herannahen sie ahnten, deren Ausbleiben sie hofften, deren Eintreffen aber noch schlimmer sein würde, als ihre Vorstellungskraft es ihnen auszumalen ermöglichte? So verhielten sie sich still, bewegungslos wie Steine, in tiefster Erschöpfung. Das ganz große Elend würden sie erst später zu Gesicht bekommen. Kein einziges Mal brach Panik los, keiner schrie, keiner fragte: Ach,

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