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Tochter des Windes - Roman

Tochter des Windes - Roman

Titel: Tochter des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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was soll nur aus uns werden? Es hätte ja nichts genutzt. Wichtig war, die Kräfte für die kommenden Tage zu schonen. Alle wussten, dass sie ihre Häuser bereits verloren hatten und dass die Gebäude, die noch standen, die schweren Nachbeben wahrscheinlich nicht überstehen würden. Denn unentwegt erschütterten leichte oder stärkere Stöße die Insel. Die Erde kam nicht zur Ruhe.
    Â»Es wird wohl einige Tage so weitergehen«, murmelte Mia, die ich mit beiden Armen umfasst hielt.
    So etwas war noch nie da gewesen. Mir wurde erneut schlecht. Wir hatten Stärke neun erlebt. Bei elf verschiebt sich die Erdachse, die Kontinente prallen aneinander, und  –
adieu, unsere schöne Welt! Und bei zwölf  – nahm ich an  – würde unser Planet in Fetzen auseinanderfliegen. Das kosmische Fußballspiel war aus, die letzte Bierdose wurde zerknickt, alle Zuschauer verstreuten sich im Wind der Planeten. Es war natürlich Unfug, was ich mir da zusammenreimte, eine apokalyptische Vision, frei nach Johannes und dem Zeitalter entsprechend. Im Augenblick wurde von uns allen zu viel verlangt. Wir sind es gewohnt, uns Gegebenheiten anzupassen, die wir kennen, und nicht solchen, die wir nicht kennen. Im Grunde war es unbegreiflich, dass wir noch am Leben waren, und dass die meisten von uns ihre Rettung ihren Haustieren verdankten. Was für ein Wunder!, dachte ich. Oder vielleicht auch nicht. Wir hatten lediglich verlernt, die Natur zu beobachten. Was zum Glück noch funktionierte, war der Selbsterhaltungstrieb. Je näher man einer Katastrophe ist, desto mehr findet man sich mit ihr ab. Es geht ja nicht anders. Ich hielt Mia dicht an mich gepresst. Sie lebte, ich hatte sie nicht verloren, aber in meinem Kopf liefen die Gedanken rundherum im Kreis. Wir lebten in einer bequemen, keimfreien Welt, Katastrophen waren woanders. Von ihnen hatten wir Vorstellungen wie aus einem Hollywoodfilm. Diese Katastrophe aber war nicht den menschlichen Maßstäben angepasst, sondern ging weit darüber hinaus. Eine über vierzig Meter hohe Woge hatte alles mit sich gerissen, ins Landinnere gespült, an den Bergen zerschmettert. Was noch stand, sah ganz anders aus, leer, unbewohnt.
    Â»Wenn das geschehen kann  – hat es noch einen Sinn, übrig zu bleiben?«
    Ich hatte es laut gesagt, und auf Deutsch. Mia bewegte sich, hob den Kopf.
    Â»Was?«
    Sie war halb eingeschlafen und hatte nicht zugehört. Ich
fuhr leicht zusammen, wiederholte es ganz instinktiv auf Japanisch. Die Antwort kam von Onkel Matsuo.
    Â»Es hat immer einen Sinn zu leben.«
    Â»Die Menschen hier … sie haben alles verloren.«
    Â»Du darfst noch so denken, Rainer.« Matsuos Stimme klang müde, aber gefasst. »Wir sind entsetzt, ja. Aber es ist schon oft vorgekommen. Erdbeben gab es immer wieder. Flutwellen auch. Hierzulande sind die Menschen bereit. Sie werden ihre Toten beweinen und ihre Häuser wieder aufbauen.«
    Â»Diesmal ist es anders«, sagte ich. »Der Atomreaktor ist beschädigt.«
    Der alte Mann nickte.
    Â»Ja, die Nachrichten sind nicht gut. Vielleicht solltest du Japan verlassen. Viele Ausländer werden abreisen. Sie fürchten sich vor dem Atomreaktor. Schmilzt der Kern, haben wir hier eine radioaktive Seuche.«
    Â»Du malst kein schönes Bild, Onkel Matsuo«, sagte Mia leise.
    Â»Ich male keine Bilder. Es ist vermutlich schon so weit.«
    Â»Und was machen die Japaner?«, fragte ich.
    Â»Da sie wahrscheinlich keine Möglichkeit haben, irgendetwas zu verändern, werden sie sich ins Unvermeidliche fügen.«
    Â»Na gut«, sagte ich, »dann füge ich mich eben auch.«
    Â»Vieles wird anders sein.«
    Â»Ich kann die Konsequenzen sehen«, sagte ich. »Aber ich bin doch nicht verrückt und gehe zurück nach Hamburg. Wozu?«
    Der alte Mann sah mich aus den Augenwinkeln an. In seinen müden Pupillen glomm ein Funke auf. Sein Gesicht veränderte sich in keiner Weise. Trotzdem war es eine Art Lächeln gewesen.

    Â»Du hast, wie mir scheint, einen akkuraten Schlussstrich gezogen, Rainer.«
    Â»So desu«, sagte ich, und dann sprachen wir nicht mehr und dösten vor uns hin.
    Es war kurz nach zwei, als Mias Smartphone plötzlich klingelte. Wir fuhren auf. Mia tastete verstört in die Tasche ihrer Daunenjacke; das kleine Rechteck leuchtete gespenstisch grün auf.
    Â» Moshi , moshi ?«,

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