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Tochter des Windes - Roman

Tochter des Windes - Roman

Titel: Tochter des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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gingen überall auf der Insel die Warnsirenen los. Eine Frauenstimme rief durch einen Lautsprecher, gab immer wieder die gleiche, dringende Warnung durch. Alle Menschen, die am Hafen auf die Fähre gewartet hatten, liefen jetzt fort, der Ortschaft entgegen. Sie stützten ältere Leute und Verletzte, zerrten Kinder mit sich oder trugen sie in den Armen. Der Anblick brachte mir auf einmal die Katzenmütter wieder in Erinnerung, die in dringender Eile ihre Jungen in Sicherheit gebracht hatten. Die Katzen hatten gewusst, was die Menschen nicht früh genug begriffen hatten. Meine Gedanken machten einen Sprung, und ich hörte ganz deutlich Hatsue von dem Katzenschrein erzählen. Der Katzenschrein, hatte sie gesagt, stand auf dem höchsten Punkt der Insel. Dorthin waren also die Katzen geflohen. Mit ihren hochempfindlichen Sinnen hatten sie gespürt, dass dort der einzige Ort war, wo sie in Sicherheit sein konnten. Ich rannte weiter, die Steigung hinauf, stolperte durch Trümmer, Schutt und Wasser, das durch den Schlamm sickerte. Ich erkannte das Haus, wo wir heute zu Gast gewesen waren: Das Haus stand schief, aber es stand. Ich stolperte durch das, was einst der Garten gewesen war, die Tür klaffte auf. Keine einzige Scheibe war mehr in den Fenstern.

    Â»Mia!«, schrie ich. »Mia!«
    Die Sirene gellte mir in den Ohren, ein nervenzerfetzendes, gellendes Auf und Ab. Und dazwischen immer wieder die Frauenstimme, die ihre Warnung in den Wind rief. Ich konnte meine eigenen Schreie nicht hören. Im Haus war niemand, alle Möbel waren umgestürzt, zerbrochenes Geschirr lag in Scherbenhaufen herum, die Tatamimatten hatten sich mit Wasser vollgesogen. Wieder erzitterte die Erde, Scherben zerbrachen unter meinen Füßen, aus der Wasserleitung lief ein dicker Strahl. Vor meinen Augen krachte die hintere Hauswand, die schief hing, berstend und splitternd zu Boden, ein Teil des Daches rutschte mit ab, Ziegel zerbrachen scheppernd beim Aufprall. Ich schrie unentwegt Mias Namen, fand aber keine Anzeichen dafür, dass jemand unter den Trümmern begraben sein könnte. Nichts Lebendes bewegte sich hier, nur das Wasser floss und Glas zerbrach unter meinen Füßen. Im Haus war alles zerstört, aber offenbar war es Mia und den beiden alten Leuten gelungen zu entkommen. Ich wankte wieder nach draußen, stolperte über Schuttberge durch den Garten. Das Kreischen der Sirene sank und stieg, sank tiefer, stieg höher. Das Getöse dröhnte durch meinen Schädel, mein Blut und meine Eingeweide und machte mich fast toll. Ich wusste überhaupt nicht mehr, was ich jetzt tun konnte; es war, als ob der Wind jede Wahrnehmung wegblies. Ich schwankte wie ein Betrunkener. Meine Beine bewegten sich ganz automatisch. Ich sah vor mir etwas Dunkles, das sich bewegte, hörte einen Schrei, der sich wie mein Name anhörte, aber das konnte nicht sein. Alles drehte sich vor meinen Augen, ich fiel vornüber. Arme stützten mich, Hände, die hart und sicher waren, hielten mich fest. Ich schnappte nach Luft, kämpfte gegen die Ohnmacht an, wollte wieder schreien, als sich meine Augen halbwegs klärten und ich ein Gesicht vor mir sah. Es war Mia, ihre Wangen
waren verschrammt, und sie umklammerte meine Schultern.
    Â»Endlich!«, schrie sie. »Komm, weg von hier, schnell, schnell!«
    Ich kauerte halb blind und keuchend im Schutt. Ich konnte Mia nur verschwommen sehen. Sie zerrte mich hoch, hob meinen Arm um ihre Schulter, zwang mich, wieder auf die Beine zu kommen. Sie hatte Kräfte wie ein Mann. »Schnell, schnell!«, war das Einzige, was sie mir in die Ohren schrie, aber selbst das hörte ich nur undeutlich, denn die Sirene schrillte unentwegt. Ich spürte, dass wir eine Steigung erklommen; mir schien, ich hatte keine Kraft mehr, auch nur einen einzigen Schritt zu tun, doch Mia gönnte sich und mir keine Pause, zog mich unentwegt weiter. Ich stolperte gegen Steine, verfing mich in Wurzelgestrüpp. In einer bestimmten Richtung vor mir war etwas Dunkles, dort mussten wir offenbar hin. Das sind Bäume, kam mir in den Sinn, und wo Bäume sind, ist der höchste Punkt der Insel. Ich sah Gestalten, die sich bewegten, die näher kamen. Und plötzlich setzte das Getöse der Sirene aus. In der abrupt einsetzenden Stille hörte ich den Wind, das Krachen und Knirschen der Zweige, die sich im Luftzug bogen. Ich hörte auch vereinzelte Schreie, Mias keuchende

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