Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tochter des Windes - Roman

Tochter des Windes - Roman

Titel: Tochter des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
Vom Netzwerk:
gebrauchen konnten. Manchmal klirrte ein Scherbenhaufen in der Ferne, oder ein Stück Mauer brach mit einem Knall, der weithin hörbar war. Ich fuhr jedes Mal zusammen, aber die Inselbewohner schätzten genau ein, wo Gefahr drohte und wo nicht. Sie waren Meister der Überlebensstrategie. Sie hatten ihre Fluchtrucksäcke dabei und wussten, dass sie in den Ruinen ihrer Häuser Vorräte finden konnten  – Teigwaren, Reis, Honig, Nüsse, Dörrfrüchte. Auch Kleider und Decken, wenn sie Glück hatten. Sie nutzten jede Lichteinwirkung für ihre Solarmodule, ihre Akkus waren immer geladen. Jeder handelte geschickt und effizient, sie kannten sich alle und halfen sich gegenseitig, ohne viele Worte zu verlieren. Sie waren eingebunden in einen Kreislauf, nicht weit weg vom Menschlichen, sondern dem Menschlichen ganz nahe. Sie waren auf Chaos vorbereitet. Weisheit? Erfahrung? Atavismus? Wahrscheinlich eine Mischung aus alldem.

    Die Küstenwache war um Hilfe gebeten worden, doch die Antwort der zuständigen Stellen hatte gelautet: »Bitte, haben Sie ein wenig Geduld!« Einheiten der Armee würden die Rettungsmannschaften unterstützen. Aber die Schäden seien enorm, man sei noch dabei, die Bedürfnisse zu protokollieren.
    Â»Die Wahrheit ist, dass alle kopflos sind«, sagte Mia wütend. »Die Verwaltung sieht keine Chance, von ihrer eigenen Unfähigkeit abzulenken, indem sie auf andere zeigt, und ist komplett überfordert!«
    An vielen Stellen war der Boden aufgeplatzt, die freigelegten, krumm und schief gebogenen Kabel und Rohre sahen fast organisch aus, als ob die Erde wie eine Leiche ihre Venen und Arterien zeigte. Es war gefährlich, sich in die eingestürzten Gebäude zu wagen. Jeden Augenblick konnte ein Nachbeben Mauern zerstückeln oder Ziegeldächer ins Rutschen bringen. Wir begleiteten Onkel Masao zur eingestürzten Krankenstation, wo er zum Glück noch einen intakten Schrank mit Verbandszeug und Medikamenten fand.
    Matsuo stopfte das Ganze in einen Rucksack, den ich mir auf den Rücken schnallte. Das gab uns Mut, uns auf den Weg zu Hatsues Haus machen. Vielleicht fanden wir in den Trümmern noch Dinge, die wir gebrauchen konnten. Und zum ersten Mal fiel mir wieder die Schriftrolle ein. Ihretwegen waren wir ja hier. Ob wir sie je zu Gesicht bekommen würden? Ich verlor nur einen flüchtigen Gedanken an diese Sache, die mir auf einmal völlig nebensächlich und unwichtig vorkam. Wir stapften über verschlammte Wege, zwischen zerstörten Gärten voller Abfall hindurch. Dass wir Tote sehen würden, war mir nicht in den Sinn gekommen. Der Anblick versetzte mir einen Schock. Die meisten Leichen lagen am Strand, in der Nähe der Werft und der Lagertanks, wo das Meer sie angespült hatte. Matsuo gesellte sich zu zwei älteren
Männern, die wir auf dem Weg trafen. Sie waren dabei, die Leichen zu bergen. Matsuo blickte uns  – die Jüngeren  – aus klaren ruhigen Augen an.
    Â»Bleibt den Toten lieber fern. Wir machen das schon.«
    Doch Mia und ich wollten helfen. Matsuo sagte nichts mehr, und wir befreiten mit großer Mühe die Leichen, die sich an den Sträuchern verfangen hatten und schon steif waren. Weil wir keine Decken hatten, schnitten wir Müllsäcke auf und breiteten sie über die verfärbten Gesichter. Wir legten alle Toten in eine Reihe, hüllten sie in Plastik und versahen sie mit einem kleinen Schild. Schlimm, wenn es sich um junge Frauen oder Männer handelte, mitten aus dem Leben gerissen, grauenhaft verstümmelt. Und am schlimmsten war es, wenn wir Kinder fanden. Ich glaube nicht, dass wir Vorbildliches leisteten. Und es tut mir leid  – aber ich spielte nicht die glorreichste Rolle. Da war zum Beispiel dieser große blaue Sack, den ich an einem Busch hängen sah. Er hatte eine komische Form. Ich dachte, jemand hatte seinen Rucksack verloren und vielleicht war etwas drin, das wir brauchen können. Als ich knapp vor dem blauen Sack stand, sah ich, dass es ein menschlicher Oberkörper war, der Unterleib fehlte  – und was da heraushing, wollte ich mir nicht näher ansehen. Ich schluckte panisch. Meine Knie wurden weich wie Pudding, ich taumelte ungeschickt ein paar Schritte zurück. Ich zitterte unkontrolliert und brauchte eine ganze Weile, bis ich mich wieder gefasst hatte. Matsuo und Mia halfen mir dann, und wir brachten die Sache

Weitere Kostenlose Bücher