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Tochter des Windes - Roman

Tochter des Windes - Roman

Titel: Tochter des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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dem Atomreaktor geschah, was so lebenswichtig und drohend war, darüber hieß es nur, dass die Verantwortlichen die Sache unter Kontrolle hatten.
    Â»Zensur«, sagte Mia bitter. »Sie wollen Panik vermeiden. Verständlich, aber politisch vernichtend. Die ganze Welt schreit Alarm. Bei uns heißt es: ›Alles unter Kontrolle.‹«
    Dass die Anwohner in einem Umkreis von dreißig Kilometern ihre Häuser, die noch standen, verlassen mussten, entlockte uns ein verständnisloses Schulterzucken.
    Â»Ob wohl erwartet wird«, sagte Mia mit bitterem Sarkasmus, »dass sich die Radioaktivität an die Grenze hält?«
    Schönwetterkapitäne waren einer solchen Katastrophe nicht gewachsen. Jetzt, da alles durcheinander- (oder auseinander-) fiel, wurden coole Leute gebraucht. Leute, die auf Draht waren, tatkräftig, zu schnellen Entschlüssen fähig. Die verstörten Menschen suchten Vorbilder, keine Technokraten, die das Erdbeben aus ihrer vertrauten Routine schüttelte. Es nahm kein Ende mit ihren düsteren Bildern. Ein Horrorfilm. Und wir mittendrin. Schmolz der Kernreaktor, würde der Niederschlag Alaska erreichen.

35. Kapitel
    W ir verbrachten eine zweite Nacht in einem Zustand der totalen Erschöpfung. Wir stanken nach allem Möglichen, aber wir konnten uns nicht waschen, außer im Schlammwasser oder im Meer. Meine Wangen kratzten, weil ich nicht rasiert war. Und wie unsere Unterwäsche aussah, wollten weder Mia noch ich wissen. Hatsue dämmerte im Halbschlaf. Ihr Gesicht war gerötet und trocken. Ihre tastenden Hände suchten an ihrer Seite die Spur der warmen, weichen Körper ihrer Katzen, die sich an sie kuschelten. Ich döste vor mich hin, als ich sie plötzlich etwas murmeln hörte. Ich schreckte hoch.
    Â»Wie?«
    Sie wiederholte die Frage.
    Â»Regnet es?«
    Die Antwort kam von Mia.
    Â»Nein, es schneit. Das fehlte auch noch!«
    Tatsächlich, jetzt hörte ich es auch, das langsame Rieseln. Die Temperatur hatte den Nullpunkt unterschritten. In Tohoku waren die Winter unbarmherzig und lang. Wir griffen nach dem Plastiktuch, befestigten es mit Knoten an den niedrigen Ästen und beschwerten es an den Ecken mit Steinen mittlerer Größe. Auf diese Weise bildete das Plastiktuch eine Art Zelt. Das war das Einzige, was wir in dieser Situation machen konnten. Vorsichtig gingen wir in die Hocke, krochen wieder ins Innere, zu Hatsue. Sie atmete zunächst in unregelmäßigen
Stößen, dann ging ihr Atem ruhig; es waren die Katzen, die sie mit ihrem leisen, friedvollen Schnurren einschlummern ließen. Was waren das doch für außergewöhnliche Wesen, von einer fast menschlichen Klugheit, aber einer Klugheit, die tiefer wurzelte als der Verstand. Die größten Erkenntnisse, dachte ich, fallen uns wie Saatkörner zu, und wir beachten sie nicht. Diese Tiere jedoch ließen sie keimen und wachsen, höher, als wir es wahrhaben konnten. Sie wussten es, wenn sich bald ein Abgrund öffnen und die Flucht dringlich wurde, aber auch, wenn das Unheil vorbei war und man den Blick von ihm abwenden konnte auf Kommendes hin. Deswegen schliefen die Katzen so friedlich. Und schenkten uns Ruhe. Schwer und beklemmend drückte die eiskalte Luft auf die Atemwege. Zerschlagen vor Müdigkeit hörten wir den Wind, der die Flocken wie kleine Federn forttrug. Das Leben war immer zu gut zu uns gewesen. Jetzt präsentierte es uns die Rechnung, und zwar einschließlich der Zinsen. Wir hatten eine Schuld zu bezahlen: die Schuld, dass es uns immer zu gut gegangen war.
    Wir schwitzten und froren gleichzeitig, die beste Voraussetzung für eine Lungenentzündung. Langsam, dann immer schneller, fielen die Flocken. Es roch aufdringlich nach vermoderten Wurzeln, nach faulem Holz, nach kalter Asche. Das Meer rauschte. Ich hasste das Meer, würde nie wieder Badeferien machen und fühlte mich doch ganz eingelullt von dem gleichmäßigen, übermächtigen Rauschen.
    Und immer wieder Stöße, ein unterirdisches Schwanken und Schaukeln. Total ekelhaft. Wir erstarrten jedes Mal mit Herzklopfen in der Furcht, dass die Erde unter uns aufklaffen und uns in tödliche Finsternis reißen würde. Doch die Katzen bewegten nur die sensiblen Ohren und seufzten im Schlaf. Sie wussten ja, dass das Schlimmste überstanden war und die Erde ganz langsam zu Ruhe kam.

    Â 
    Hatsue ging es nicht gut. Sie hatte hohes Fieber. Als es

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