Tochter des Windes - Roman
Erdgeschoss bestand aus einem groÃen, offenen Raum, der durch Schiebewände aus Holz und Reispapier in einzelne Zimmer abgeteilt werden konnte. Die Wände waren mit einer Art faseriger Seidentapete überzogen, die an einigen Stellen zerschlissen war. Gegenüber der Tür hing ein verblasstes Rollbild, vermutlich im gleichen Alter wie die Frau, die hier gewohnt hatte. Rings an den Wänden standen Kommoden aus dunklem Holz, mit
vielen Schubladen und Eisenbeschlägen versehen. Ein altes Klavier, ein Yamaha aus dem Jahr 1952, war ebenfalls vorhanden. Ich hob den Deckel, schlug eine Taste an, dann eine andere. Ein seltsamer Klang  â eine leichte Gänsehaut überzog meine Arme. Es war, als ob das Haus aus seinem Dornröschenschlaf erwachte.
»Spielst du Klavier?«, fragte Mia.
Ich nickte, schlug wieder eine Taste an.
»Ja, mein Vater hat es mir beigebracht. Aber ich war überhaupt nicht begabt, und er hatte es bald satt.«
»In japanischen Häusern findest du oft ein Klavier«, sagte Mia. »Klaviere gehören sozusagen zur Standardeinrichtung.«
Ich schloss behutsam den Deckel.
»Es müsste gestimmt werden.«
Es gab auch zwei tiefe Bücherbretter, auf dem einige alte Schmöker aufgestellt waren. Dazu ein niedriger Esstisch mit der offenbar üblichen Wärmekiste. Sie war innen mit winzigen Schubladen versehen, die alle leer waren.
»Was tut man da rein?«
»Ach, Extra-Essbesteck, wenn Gäste kommen, und das Teegeschirr. Im Winter wird da geheizt. Früher mit Holzkohle, aber Tante Azai benutzte einen kleinen elektrischen Heizlüfter.«
Ich war perplex.
»Im Restaurant hatten sie die gleiche Einrichtung. Verbrennt man sich nicht die FüÃe dabei?«
Mia stemmte die Hände in die Hüften und schüttelte bekümmert den Kopf.
»Mein lieber Rainer, Japaner knien vor dem Tisch und stecken ihre Beine nicht wie unwissende Gaijin in die Wärmekiste!«
Der unwissende Gaijin entschuldigte sich. Hier war alles sonderbar. Gab es denn keine Fenster? Doch, die Schiebetüren!
Es waren übrigens Doppeltüren: innen aus Reispapier, auÃen aus massivem Holz, zum Schutz gegen stürmisches Wetter und zur Sicherung während der Nacht. Mia war gerade dabei, sie zu öffnen. Die Papierwand glitt mühelos zur Seite. Aber die Schiebetür dahinter klemmte. Ich trat neben Mia, um ihr behilflich zu sein, fand aber nichts, woran ich ziehen konnte.
»Wie macht man die auf?«
»Man muss irgendwo drücken.«
Mia bückte sich und fand die richtige Stelle, etwa zehn Zentimeter über dem Boden.
»Was soll das?«, fragte ich perplex.
Sie sah amüsiert zu mir empor.
»Ein Finger genügt.«
Ich legte den Finger an die Stelle, die sie mir zeigte. Kaum hatte ich gedrückt, als die Schiebetüren sich in Bewegung setzten. Es gab ein lautes Knarren, und Tageslicht fiel in den Raum. Ich war baff.
»Nie gesehen!«, murmelte ich kopfschüttelnd.
»Ein kleiner Trick«, sagte Mia. »Ich werde dir die Stelle markieren.«
»Hier kommt garantiert kein Einbrecher rein«, meinte ich.
Sie nickte.
»Darauf kannst du Gift nehmen!«
Sonderbar war es trotzdem. Immerhin blickte ich jetzt in einen kleinen Garten. Knapp drei Meter dahinter war das Nebenhaus. An den Wänden lehnten Mülltonnen, zersprungene Blumentöpfe und verschiedener Krimskrams. Es gab nur eine Tür und ein einziges Fenster mit blinder Scheibe. Auf Tuchfühlung mit den Nachbarn, dachte ich. Aber rechts und links war die Sicht frei, und ich konnte den Garten mit seinen sauber verschnittenen Sträuchern überblicken. Tante Azais Schreibtisch aus Kastanienholz war so gestellt, dass sie,
wenn sich die papierne Schiebetür zur Seite bewegte, dieses Stück Garten übersehen konnte. Hübsch, dachte ich.
»Und wie schlieÃt man?«
Mia legte den Finger an die gleiche Stelle. Die dicken Holztüren hopsten sozusagen zurück. Mia stoppte den Vorgang.
»Tagsüber kann man sie auflassen.«
»Und wenn ich aus dem Haus gehe?«
»Dann schlieÃt du sie. Du hast ja gesehen, es geht ganz leicht.«
»Wer hat das erfunden?«, fragte ich mit zunehmender Verwunderung. Sie lachte.
»Ach, irgendein kluger Kopf!«
In einem Nebenzimmer befand sich ein Hausaltar, eine wuchtige Konstruktion, die fast bis zur Decke reichte. Die schwarze Lackschicht war spiegelblank. Der kunstvoll
Weitere Kostenlose Bücher