Tochter des Windes - Roman
geschnitzte Innenraum stand leer, die kleinen vergoldeten Türen waren mit weiÃen Papierstreifen verklebt.
Ich sah Mia fragend an. Sie erklärte mir, dass Verstorbene einen buddhistischen Totennamen erhalten. Der Priester, der die Bestattung leitet, bestimmt den Namen, wobei er die Wesenszüge des Toten so gut es geht in Betracht zieht, und schreibt ihn auf ein besonders kostbares Papier. Das Papier wird dann im Altarschrein aufbewahrt. Während neunundvierzig Tagen zündet die Trauerfamilie täglich kleine Weihrauchstäbchen an und hält eine kurze Andacht. Dann ist die Trauerzeit vorbei.
»Wenn Betagte ihr Haus aufgeben, lassen sie die Totennamen der Familie nie zurück. Im Heim ist in jedem Zimmer ein kleiner Tragaltar dafür vorgesehen.«
»Und warum wurde der Schrein mit Papier verklebt?«
»Um ihn vor der Entweihung zu schützen.«
Ich war nie besonders religiös gewesen, aber solche Dinge leuchteten mir wohl ein. Hermann Hesse hat in einem Gedicht
geschrieben, dass kein Mensch den anderen kennt und jeder allein ist. Das stimmte im Prinzip. Aber keiner ist aus der Luft geboren. Man hat ja schlieÃlich Eltern, die sich  â in der Regel  â Mühe gegeben haben, aus dem brüllenden Windelpaket einen halbwegs brauchbaren Erwachsenen zu machen. Ein bisschen Dankbarkeit post mortem konnte nicht schaden.
Mia wies auf zwei alte Fotografien, die in geschnitzten Rahmen an der Wand gegenüber hingen. Die VergröÃerungen zeigten einen Mann und eine Frau im dunklen Zeremonie-Kimono.
»Chimako und Yoshiaki, meine UrgroÃeltern. Sie sehen ziemlich steif aus, ne? Aber das verlangte die Konvention.«
Ich hatte Fotos von meinen GroÃeltern gesehen aus derselben Zeit, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie hatten fast das gleiche Gesicht, als würden sie an einer Zitrone lutschen.
»Porträtsitzungen waren eine Prozedur!«, sagte ich.
Ich trat näher an die Bilder heran. Chimako war eine klassische Schönheit. Die hohe Stirn, die länglichen Wangen gaben ihrem hell gepuderten Antlitz die Form einer Mandel. Yoshiaki hatte sanfte, nachdenkliche Züge, in einstudierter Strenge erstarrt. Anweisungen des Fotografen: Er sollte sich  â bitte schön  â als Patriarch in Szene setzten. Das Ergebnis war nur, dass es entnervt wirkte.
»War er der Arzt, der Jan Letzel behandelte?«, fragte ich.
»Ja, ja! Er war ein Idealist. Arme hat er umsonst gepflegt. Dafür nahm er viel Geld von gut betuchten Leuten.«
»Cool!«, meinte ich.
»Soviel ich mich entsinne«, fuhr Mia fort, »sind beide in den Sechzigerjahren gestorben.«
»Wie alt ist eigentlich dieses Haus?«
»Oh, meine UrgroÃmutter ist hier zur Welt gekommen!
Man schätzt, dass der Bau aus der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts stammt. Das ist sehr ungewöhnlich, weil Holzhäuser selten so alt werden.«
Gratuliere, dachte ich, und sah mich schon im Geiste meine Notdurft in einem Plumpsklo im Garten verrichten. Das, was an diesem Ort vielleicht das Unwichtigste war, war für mich besonders wichtig und ein solides Argument gegen kunsthistorischen Denkmalschutz.
»Gibt es eigentlich ein Badezimmer? Und eine Küche?«
Mia nickte mir fröhlich zu. Das reine Gewissen stand ihr ins Gesicht geschrieben.
»Tante Azai hat alles neu machen lassen!«
Ãber die Küche war nichts zu sagen, abgesehen davon, dass die Einrichtung nicht neu, sondern mindestens schon vierzig Jahre alt war. Na ja, Kühlschrank und Gasherd funktionierten. An der Wand war ein billiger Schrank für Vorräte und Geschirr angebracht. Eine Küchenschabe hielt Mittagsschlaf auf einem Regal. Ich erschlug sie kurzerhand, bevor sie richtig wach wurde. Prädestination.
»Oh, ah!«, rief Mia angeekelt.
Ich lächelte sie munter an.
»Und das Badezimmer?«
»Hier!«
Mia zog eine Schiebetür auf. Wie hierzulande üblich, war es zweigeteilt: ein winziges Waschbecken, ein Spiegelschrank und hinter einer trüben Glaswand die Wanne, klein und tief, mit einer Abdeckung aus blauem Plastik, die Schimmel angesetzt hatte. In den abgenutzten Bodenfliesen steckte ein Abflussrohr. Der Wasserhahn ragte direkt aus der Wand. Das Wasser wurde mit einem Boiler geheizt. Nicht viel anders als bei uns in der Nachkriegszeit. Es gab sogar eine Waschmaschine, altmodisch wie alles andere, aber brauchbar. Die Tante dachte
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