Tochter des Windes - Roman
drauÃen nichts sieht.«
»Clevere Sache«, murmelte ich, obwohl mir der Sinn noch nicht einleuchtete.
Licht empfing das bauwerkliche Puzzle durch ein Fenster, das mit Reispapier bezogen war, sodass man es kaum wahrnahm. Es sah wie ein Teil der Wand aus. Man musste schon genau hinschauen, um es zu entdecken. Mia ging darauf zu und gab mir ein Zeichen, dass ich es öffnen sollte. Aha, wieder ein Trick! Ich studierte die Sache. Das Papier war auf dünne Stäbchen gespannt. Eine kleine Schiebewand offenbar. Ich zog und drückte vergeblich. Das Fenster blieb zu.
»Hier«, sagte Mia. »Immer nur mit zwei Fingern, nie mit Kraft!«
Ich legte zwei Finger an den Fensterrahmen. Schwupp! Die Schiebewand sprang zur Seite. Mia deutete nach unten. Ich lehnte mich umständlich hinaus und erblickte einen alten Brunnentrog. Ich kalkulierte, dass er sich genau hinter der Küche befand, was ja logisch war. In der Ferne, tief unten, glänzte ein schwarzer Wasserspiegel.
»Siehst du das Loch an der Brunnenwand?«, fragte Mia.
»Wo? Innen oder auÃen?«
»Innen natürlich.«
Nach längerem Hinsehen entdeckte ich eine dunkle Vertiefung.
»Was ist das?«
»Ein Tunnel. Kannst du dir vorstellen, da hineinzukriechen?«
»Ich? Nie im Leben! Ich würde stecken bleiben.«
»Es sei denn, du lernst, deine Gelenke zu dehnen.«
»Wie im Zirkus?«
»Wenn du es fertigbringst â¦Â«
Mia wies auf eine Art Eisenzange, die neben dem Fenster angebracht war.
»Früher ⦠ich meine, vor hundert Jahren, hing da ein Sprossenseil. Drohte Gefahr, konntest du an der AuÃenwand entlang in den Brunnen klettern und dich in Sicherheit bringen.«
»Aha. Aber was, wenn es regnete und das Wasser bis zum Rand stieg?«
»Geheimgänge waren eine Wissenschaft für sich und der Ortskunde angepasst. Dieser Tunnel ist so gegraben, dass er aufwärts führt und Wasser innen abflieÃen kann.«
»Dann würde ich einfach nur nass?«
»Und dreckig«, ergänzte Mia.
»Und Licht?«
»Gab es nicht. Einfach blindlings Kopf voran und los!«
»Ãberwindung gehörte wohl dazu«, meinte ich.
»Waren dir Feinde auf den Fersen â¦Â«
»Aber nur, wenn sie ganz furchtbar bedrohlich waren. Und wo wäre ich wieder zum Vorschein gekommen?«
»Im Garten vom Inari -Schrein. Mit siebzehn hat Tante Azai mal probiert, ob sie durchkam.«
»Hat sie das wirklich gemacht?«
»Es hätte ja sein können, dass der Tunnel verschüttet war.«
»Sportlich!«, murmelte ich.
»Tante Azai war eine Draufgängerin. Es sei allerdings ekelig gewesen, hat sie gesagt, weil es nach Kanalisation stank. Sie musste sofort ein Bad nehmen.«
Ich traute meinen Ohren nicht.
»Mia, was ist das für ein Haus? Was für Leute wohnten hier?«
Sie lächelte auf besondere Art.
»Hier wohnten Windmenschen.«
»Was sind Windmenschen, Mia?«
»Gleich erkläre ich dir alles«, sagte sie. »Aber es gibt noch Dinge, die du nicht gesehen hast.«
Der Streifzug durch mein zukünftiges Domizil nahm also noch kein Ende. Ich machte mich auf weitere Ãberraschungen gefasst. Wir gingen den schiefen Gang wieder zurück und zwängten uns durch die Tür. Mia löschte das Licht, drückte mit zwei Fingern. Die Ãffnung schnellte zurück, fügte sich perfekt in die Täfelung ein. Zu sehen war nichts.
»Gefällt es dir hier?«, fragte Mia heiter.
Ich atmete durch. Was sollte ich sagen? Ich fühlte mich plötzlich unsäglich erregt. Das Haus mit seinen Tricks und Geheimnissen übte eine steigende Faszination auf mich aus. Ich spürte einen starken Wunsch, hier zu wohnen, ja, ich war
sogar bereit, auf dem Hintern zu rutschen, wenn ich nachts mal pinkeln musste. Und würde ich mit lautem Krachen eine Bruchlandung hinlegen, käme mir niemand zu Hilfe. Ich hoffte, dass ich es überlebte.
»Interessant«, antwortete ich stoisch.
Wir waren wieder im Wohnzimmer. Mia ging auf das Rollbild zu und hob es leicht zur Seite. Eine kastenartige Ãffnung kam zum Vorschein. Dahinter waren wieder diese Stufen, für die sieben Zwerge gemacht. Und wo war Schneewittchen?
Mia hielt das Bild hoch.
»Willst du mal hinauf?«
Schneewittchen war vielleicht oben. Ich steckte den Kopf durch die Luke, die Schultern und der Rest folgten. Ich zog mich hoch und entdeckte einen Raum,
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