Tochter des Windes - Roman
praktisch. Die Toilette war ein schlauchförmiger,
düsterer Raum hinter einer Tür mit Haken. Vor der Tür standen  â ebenfalls verschimmelt  â die üblichen Sandalen aus grünem Plastik. Mia warf einen Blick in das WC, rümpfte die Nase und zog an der Kette. Das stehende braune Wasser gurgelte und gluckste.
»Ich werde mir ein Mittel zum Entkalken besorgen«, sagte ich, zog die Tür an der wackeligen Klinke zu und stellte gleichzeitig fest, dass ich innerlich schon darauf vorbereitet war, mich hier einzurichten.
»Und wo ist das Schlafzimmer?«
Mit einer schnellen Bewegung ihres Unterarms strich Mia sich das Haar aus der Stirn.
»Oben.«
»Gehen wir mal rauf?«
Ich sah vor mir eine Tür, die ich öffnete. Dahinter war eine Holzwand, gegen die ich unsanft mit der Nase prallte.
»Au!«
Mia machte ein besorgtes Gesicht.
»Tut es weh?«
Ich schüttelte benommen den Kopf.
»Tut mir leid, ich dachte, das sei eine echte Tür.«
»Moment!« sagte Mia.
Sie tastete mit der Hand über die Holzwand, drückte irgendwo. Die Holzwand drehte sich, gab eine seitliche Ãffnung frei. Ich sah eine Anzahl Stufen, die nach oben führten.
»Was um Himmels willen ist das?«
Mia lachte herzlich.
»Eine Geheimtreppe! Kommst du da hinauf?«
Ich steckte den Kopf durch die Ãffnung. Der Treppenaufgang war dunkel, eng und steil, ein Zehnjähriger hätte das echt toll gefunden. Ich nicht.
»Warte, lass mich vorausgehen«, sagte Mia. Sie kletterte leichtfüÃig die Stufen empor. Ich kroch hinterher mit dem
Gedanken: Was, wenn ich oben schlafe und der Briefträger klingelt? Würde ich ihm auf dem Allerwertesten entgegenschlittern müssen? Wie ich die Lage allmählich beurteilte, stand das Haus unter Denkmalschutz, weil es so verrückt konzipiert war. Immerhin erwartete mich oben eine angenehme Ãberraschung: Das Schlafzimmer war groà und hell, mit Matten ausgelegt, die nicht im Geringsten abgenutzt waren. Die Ränder aus Goldbrokat zeigten winzige eingewebte Kreise mit einem Blütenmuster. Hübsch!
Mia öffnete einen Einbauschrank, mit faseriger Seide bezogen, der bis an die Decke ging. Der Schrank war innen glänzend poliert und sehr tief, aber leer, bis auf zwei eingerollte Bettmatratzen. Ich schnupperte. Das Bettzeug roch nicht muffig, sondern duftete angenehm nach Heuwiese. Mia nickte mir zu.
»Die Futons waren lange nicht in Gebrauch, aber sie riechen noch gut. Du musst dir nur frisches Bettzeug kaufen und es täglich auslüften.«
Das Zimmer verfügte über ein Fenster, groà genug, damit man die Futons über die Brüstung hängen konnte.
»Wie in Italien«, stellte ich fest. »Du, sag mal, hat das Fenster auch einen Trick?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein, Tante Azai hat Scheiben anbringen lassen. Aber was du noch wissen solltest â¦Â«
Sie sah sich aufmerksam um. Plötzlich ging sie auf eine Wand zu und lehnte sich graziös an die Täfelung. Das Holz knarrte ganz leise und glitt auseinander. Zum Vorschein kam eine enge Türöffnung. Ich dachte, in diesem Haus sind Hinweisschilder erforderlich. Mia blinzelte mir zu.
»Komm!«
Wir zwängten uns seitwärts hindurch. Mia fand einen Schalter, machte Licht.
Ich seufzte.
»War Tante Azais Leben modern?«
»Aber natürlich. Sie lebte nicht hinterm Mond.«
Lebte sie im Hier und Jetzt? Ich hatte da meine Zweifel. Aber vielleicht sollte ich die Absurdität dieses Hauses als jene Authentizität ansehen, von der ein biederer norddeutscher Akademiker nicht die blasseste Ahnung hatte. Sonderbar, dieses Haus! Es war mir nicht geheuer, zog mich aber an. Als ob es nur auf mich gewartet hätte. Was natürlich ein Irrsinn war. Wer, um Himmels willen, wollte in diesem Trickkasten wohnen?
Neugierig krabbelte ich aufwärts, zu zwei winzigen Zimmern, schön mit Tatami ausgelegt und mit schrägen Wänden. Die Deckenbalken hingen tief, aber immerhin konnte ich aufrecht stehen, ohne mir irgendwo den Kopf anzuknallen. Und gleichzeitig war ich irritiert, weil ich nicht ausmachen konnte, wo wir denn eigentlich jetzt waren, bis mir klar wurde, dass sich über dem Schlafzimmer ein ausgeklügelt verschachtelter Dachboden befand.
»Eigentlich hat das Haus ein Stockwerk mehr«, bemerkte ich.
»Richtig«, bestätigte Mia. »Es wurde aber so gebaut, dass man von
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