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Tochter des Windes - Roman

Tochter des Windes - Roman

Titel: Tochter des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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mit Matten bezogen, aber so niedrig, dass ich nur krabbeln konnte.
    Â»Du konntest dich hier oben verstecken«, sagte Mia, die hinter mir die Stufen hochgekommen war. »Und gleichzeitig alles mithören, was unten gesprochen wurde.«
    Â»Saß ich nicht in der Falle?«
    Â»Aber nein.« Mia rutschte auf Händen und Füßen zur Wand, klopfte mit den Fingerknöcheln, suchte eine Markierung.
    Â»Hier!«
    Schwupp! Wieder glitt eine Tür, dicht am Boden angebracht, zur Seite. Ich musste unwillkürlich an eine Katzenklappe denken und brach in Lachen aus.
    Â»Hätte ich da durchgemusst? Und dann?«
    Â»Dann wärst du wieder im Schlafzimmer gewesen. Im Bettschrank.«
    Â»Wie bitte?«
    Â»Da ist der Ausgang! Du hebst zwei Bretter und steigst aus dem Schrank. Die Geheimtür zum Dachboden kennst du ja. Du machst das Fenster auf und steigst die Leiter hinab.«

    Â»In den Brunnen?«
    Â»Du kannst auch aufs Dach klettern, wenn dir das besser gefällt. Von dort aus springst du auf das nächste Haus …«
    Â»Wäre ich Tarzan, kein Problem!«
    Â»Für dich auch nicht. Du hast ein Seil mit Greifhaken um deinen Gürtel gewickelt.«
    Â»Ach so, ja, ja«, sagte ich. »Ein Seil mit Greifhaken sollte man immer dabei haben.«
    Â»Du wirfst das Seil, schwingst dich aufs nächste Dach. Dann hakst du das Seil gut fest und kletterst die Wand entlang nach unten. Weg bist du!«
    Â»Und alles ohne Lärm?«
    Â»Mucksmäuschenstill. Du hast besondere Fußstutzen, die großen Zehen gesondert, wie die Daumen eines Fausthandschuhs. Fußstutzen gehören noch heute zu unserer traditionellen Kleidung. Sie sind meistens aus weißer oder dunkelblauer Baumwolle. Die für Handwerker und Zimmerleute sind aus ganz festem Stoff. So können sich die Arbeiter am Gebälk festkrallen. Sie benutzen den großen Zeh wie einen Daumen. Das gibt ihnen einen besseren Halt.«
    Ich starrte Mia an, und das, was sie sagte, zog vor meinem inneren Auge wie ein Filmstreifen vorbei.
    Â»Was du da erzählst  – haben das die Hausbewohner früher alles gemacht?«
    Â»Ich erfinde nichts.«
    Â»Dann stammst du also aus einer Familie von ›Windmenschen‹?«
    Â»â€ºWindmenschen‹ ist der alte Ausdruck. Vielleicht ist dir ja der Name ›Ninja‹ besser bekannt.«
    Mir fiel fast die Kinnlade herunter.
    Â»Ich werd’ verrückt!«, entfuhr es mir. »Mia, sag bloß, du bist eine Ninja?«
    Sie lachte herzlich.

    Â»Nein, überhaupt nicht! Und ich wäre eine katastrophale Ninja gewesen! Aber Tatsache ist, dass ich aus einem Geschlecht von Ninjas stamme und mir sogar etwas darauf einbilde. Und wie eine echte Ninja sich benehmen kann, hast du ja bei Tante Azai erlebt. Sie mag dich, zum Glück.«
    Â»Sie mag mich? Woher weißt du das?«
    Â»Hast du mal ein Krokodil gesehen?«
    Ich seufzte.
    Â»Sag mal, wie lange hat sie eigentlich hier gewohnt?«
    Â»Nach dem Tod ihres Mannes noch sechzehn Jahre. Allerdings hat sie einiges geändert. Zum Bespiel hatte man am Eingang eine Falle angelegt. Kamen unerwünschte Besucher, klappten die Bodenbretter auseinander. Darunter war ein Kasten mit spitzen Eisenstangen angebracht. Du kannst dir vorstellen …«
    Â»Echt brutal!«, seufzte ich.
    Â»Die Stangen sind schon lange weg. Tante Azai hat den ganzen Mechanismus sichern lassen.«
    Â»Da bin ich aber beruhigt«, sagte ich.
    Â»Verstehst du, warum man hier ein Museum einrichten will? Solche Häuser gibt es nur noch ganz wenige in Japan. Fast alle wurden im Krieg zerstört. Die meisten, die man heute besichtigen kann, sind Nachbildungen. Sie dienen auch als Kulisse bei Filmaufnahmen. Aber Tante Azai will nicht, dass das Museum entsteht, solange sie noch am Leben ist. Sie sagt, das Haus gehöre der Familie. Sie hält stur daran fest.«
    Irgendwie hatte ich Verständnis dafür. Es war ein fremdartiges Haus, voller Rätsel und Geschichten, die alle Impulse, die sie geben konnten, auf geheimnisvolle Art bewahrt hatten. Meine Erinnerung verlor sich bereits in einem Nebeldunst von Erinnerungen, die hundert Jahre alt waren, wanderte auf den Spuren verblichener Gespenster. Mir war inzwischen egal, ob ich hier gut schlafen konnte oder Kopf
voran über die Stufen kollern würde. Aber ich wollte in diesem Haus wohnen. Unbedingt.
    Â»Warum wohnst du nicht hier?«, fragte ich Mia.

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