Tochter des Windes - Roman
erzählen  â das interessiert dich gewiss am meisten.
Du weiÃt, dass ich mich schon lange nach einer selbstständigen Frau sehnte. In dieser Hinsicht lässt Mia keinen meiner Wünsche offen. Sie ist so unabhängig, dass ich mich gelegentlich frage, ob ich nur die Perlenbrosche an ihrem Designerblazer bin. Ich finde das nicht hart, sondern erholsam. Wir machen beide unseren Kram, und wenn es geht, sind wir zusammen. Sie hat im Augenblick viel zu tun, weil sie an einem aufwendigen Bauprojekt arbeitet. Aber wir telefonieren täglich, schreiben uns SMS und sehen uns abwechselnd in meinem Spukhaus oder in ihrer Glaswohnung im achtundzwanzigsten Stockwerk, die mir aus undefinierbaren Gründen ein wenig unheimlich ist. Aber wahrscheinlich habe ich Vorurteile, und es tut hier auch nichts zur Sache. Ich glaube, es ist der französische Dichter und Kriegspilot Saint-Exupéry, der geschrieben hat: »Verliebe dich nur in eine Frau, die dein bester Freund sein könnte, wenn sie ein Mann wäre.«
Nun, Mia könnte durchaus mein bester Freund sein. Sie
jammert mir nichts von zehrender Liebe vor, aber noch im Schlaf versucht sie immer wieder, einen Teil der Decke über mich zu ziehen, damit ich nicht friere. Einfach rührend. Nach der zu kurzen Nacht und nach allem, was dazugehört, wache ich auf, komme mir schäbig und unrasiert vor, gedankenlos, primitiv und verschlafen. Sie jedoch, duftend, mit frisch gewaschenem Haar, hält mir liebevoll eine heiÃe Tasse Kaffee unter die Nase, küsst mich, sagt Tschüs und Bis bald, schlüpft in ihre Ballerinas und schwebt davon. Woher nimmt sie die Nonchalance, so unbekümmert in den Alltag zu verschwinden, meine Anwesenheit zu ignorieren, als ob ich überhaupt nicht wichtig sei? Als ich sie einmal darauf ansprach, gab sie mir folgende  â entzückend romantische  â Erklärung: Zur Heian-Zeit, ungefähr vor tausend Jahren, gab es besondere Verhaltensregeln für Männer, die nachts eine Dame besuchten: Sie hatten bei Tagesanbruch zu verschwinden, aber auf so diskrete und elegante Art, dass sie in der kommenden Nacht mit Sehnsucht wieder erwartet wurden. Dabei vertritt Mia die Meinung, dass die Methode heutzutage durchaus auch für Frauen gilt. Tatsächlich kommt mir oft in den Sinn, wäre es nicht so absurd, ihr Verhalten als »ritterlich« zu bezeichnen. Mias kleine Aufmerksamkeiten gehen ihr locker von der Hand, sind bei ihr lediglich eine Frage des Taktes und fordern als Gegengabe die gleiche Höflichkeit. Und so erzieht sie mich. Ich lerne fortwährend dazu.
Ich denke, dass der Wunsch, einen vollkommenen Partner zu finden, nicht narzisstisch im üblichen freudianischen Sinne ist. Ist die Grundlage jeder Liebe und jedes Verlangen nicht ein Streben nach dem Ganzen? An dieser Stelle höre ich dich geradezu lachen. Du würdest mir jetzt sagen, dass jeder er selbst und der andere ein anderer ist. Meinetwegen. Aber gewähre mir immerhin diese Suche nach dem
Ãhnlichen. Und in Mia finde ich zumindest die Andeutung einer Ergänzung. Aber vielleicht bilde ich mir das nur ein. Jetzt etwas anderes. Ich habe dir schon von der Drachentante erzählt, die hundertacht ist, noch kein Gebiss trägt, und vor der ich auf den Knien rutschen musste, bevor ich in ihr Haus einziehen durfte. Merkwürdig, dass ich mich in diesem Haus so wohlfühle. Hier riecht es geradezu nach Verschwörung und Hinterhalt, aber in der allgegenwärtigen Feuchtigkeit Tokios riecht sogar die Vergangenheit muffig. Die Gespenster sind mottenzerfressen. Sie jagen mich jedenfalls nicht aus den Fenstertüren, die ich sowieso nur öffnen kann, wenn ich zwei Finger an die richtige Stelle lege. Und wie bringst du das fertig, wenn ein Gespenst hinter dir geifert? Nein, nein, zu mir ist das Haus ausgesprochen freundlich. Was nun die Frage betrifft, ob ich meine Arbeit hier vertiefen kann ⦠Ich fühle mich dazu noch nicht in der Lage. Es ist nicht eine Frage von soll ich oder soll ich nicht? Mein Computer blickt mich erwartungsvoll an. Ich sage zu ihm auf Japanisch: »Chotto matte kudasai« (Warte bitte noch ein wenig!). In mir ist etwas am Gären, aber ich muss noch Geduld haben. Japan ist bizarr. Auf der einen Seite total fremd, auf der anderen vertraut. Ich spaziere durch Tokio wie durch ein exotisches Hamburg. Exotisch nur dadurch, dass die Bewohner anders aussehen, eleganter, gepflegter.
Weitere Kostenlose Bücher