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Tochter des Windes - Roman

Tochter des Windes - Roman

Titel: Tochter des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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und Nebel losschrauben und stibitzen. Eisen ist im Ausland eine schöne Stange Geld wert. Und so kommt es, dass spät heimwärts eilende Salarimänner oder Schulkinder in die klaffenden Löcher fallen. Die Yakuza finden das fies. Sie werfen den Eindringlingen einen akuten Mangel an Moral vor und ballern sie aus ihrem Revier. Tokios Nächte sind voller zuckender Blaulichter und grausig heulender Sirenen. Die Polizei erscheint am Tatort, sobald alles vorbei ist, und markiert den Asphalt mit Kreidestrichen, insgeheim froh darüber, dass die Yakuza mit Menschenrechten nichts am Hut haben und die dreckige Arbeit für sie erledigen. Die durchlöcherten Leichen sieht man dann zur Abschreckung in der Tagesschau. Das alles nimmt der Bürger zumeist unbeteiligt wahr. Wer nicht zum Milieu gehört, spaziert  – außer, wenn er großes Pech hat  – unversehrt durch den Kugelhagel. Die Yakuza fühlen sich als Beschützer der Armen und Schwachen. Deswegen sieht man sie an Feierund Markttagen, wie sie, immer noch mit Gold behangen, Garküchen aufstellen und Nudelsuppe verteilen. Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen. Japan gilt noch heute als eines der sichersten Länder der Welt.
    Was sonst noch? Das Essen ist köstlich, immer frisch zubereitet. Wer nie in Japan war, hat keine Ahnung von Sushi, tut mir leid. Kulturell gibt es alles hier, was man sich wünschen kann: das neueste Filmangebot, die besten Konzerte, eine sehr lebendige, schrille Tanz- und Theaterszene, tolle Jazzcafés, Kunstausstellungen, die erst Monate später nach Europa kommen. Ein herrlicher, kaum zu bewältigender Überfluss. »Paris ist ein Fest«, schrieb Hemingway in den frühen Dreißigerjahren. Nun, ich könnte heute, im Jahr 2010, »Tokio ist ein Fest« schreiben. Alles ist überdimensional, vielfältig, einfach unwiderstehlich.

    Und was sonst noch? Ach ja, die Sprache! Die japanische Sprache ist eigentlich gar nicht so schwer, wobei der Akzent eher südeuropäisch klingt, sodass ich permanent das Gefühl habe, unter Leuten zu leben, die ein Italienisch sprechen, das ich nicht verstehe. Ein Merkmal, das sich noch verstärkt, wenn ich die vielen regionalen Dialekte einbeziehe, die sogar für Mia  – wie sie sagt  – gelegentlich unverständlich klingen. Dazu gibt es eine Männer- und eine Frauensprache  – die Sprache wird einfach anders verwendet und  – wen wundert’s  – die Frauensprache hört sich eleganter an. Die japanische Sprache kennt auch keine Fürwörter; diese werden durch Adjektive ersetzt. Und die japanische Schrift ist auch ein Kapitel für sich, eines der bedeutendsten und faszinierendsten Schriftsysteme, die je entwickelt wurden. Bedenken wir, dass bei uns das Alphabet aus sechsundzwanzig Buchstaben besteht, das die Erstklässler mühsam lernen, müssen wir zwangsläufig zugeben, dass jedes japanische Schulkind als Genie gelten kann! Obwohl nach dem Krieg die japanische Schrift einer umfassenden Reform unterzogen und vereinfacht wurde, erwartet man hierzulande von Jugendlichen, dass sie nach der Oberschule rund zweitausend Schriftzeichen beherrschen. Akademisch Gebildete kennen wohl einige tausend Zeichen mehr sowie das Fachvokabular ihrer Studienrichtung. Und inzwischen beherrscht dein lieber Sohn nicht mehr als eine formelle Liste von etwa achtzig Schriftzeichen  – er befindet sich also ungefähr auf dem Niveau eines einheimischen Zweitklässlers.
    Das rückt die Sache ins richtige Licht. Bescheidenheit ist eine japanische Tugend. Ich muss noch üben.

20. Kapitel
    I m Dezember erlebte ich ein paar neue Überraschungen, hatte ich doch an Weihnachten überhaupt nicht gedacht. Hierzulande war Weihnachten amerikanisch-kitschig: Santa Claus überall, dickwanstig und im Coca-Cola-Ornat oder im Schlitten, von unjapanischen Rentieren gezogen. »Jingle Bells« und »White Christmas« an jeder Straßenecke, in der U-Bahn und in jedem Warenhaus. Bing Crosby und Frank Sinatra lieferten sich, über die Jahrzehnte hinweg, ihren unsterblichen Schmalzlieder-Contest. Ich bevorzugte Sinatra, mit dieser leichten Ironie in der Stimme. Crosby nahm seine Sache allzu ernst. Weihnachten, da gab es nichts zu lachen. Ach Gott! Ich hörte auch »O du fröhliche« und »Stille Nacht«, von ätherischen Kinderchören gesungen, was die

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