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Tochter des Windes - Roman

Tochter des Windes - Roman

Titel: Tochter des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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nichts. Aber welche Dinge? Hätte sie mich jetzt danach gefragt, wäre ich nicht imstande gewesen, ihr eine klare Antwort zu geben. Ich kam mir sehr hohlköpfig vor. Sie war eine vernünftige Frau, ich redete dummes Zeug, und sie hatte wahrhaftig viel Geduld mit mir.
    Â»Ãœber die Tante würde ich wirklich gerne mehr wissen«, sagte ich, scheinbar beziehungslos, und weil ich es auch so empfand. »Kannst du sie nicht mal zum Reden bringen?«

    Â»Man bringt Tante Azai nicht zum Reden.«
    Â»Ist sie wirklich so stur?«
    Â»Ich glaube, es ist eher eine Gewohnheit von ihr. In alten Zeiten war es wichtig, seine Gedanken für sich zu behalten.«
    Â»Und was noch?«
    Â»Was noch?«
    Â»Mich würde interessieren, wie es früher war.«
    Â»Vor hundert Jahren, meinst du?«
    Â»Nein, noch früher!«
    Sie lachte ein wenig, entspannte sich.
    Â»Ach, das kann ich dir sagen. Also, vor dreihundert Jahren, da konnte man im feudalen Japan nicht kommen und gehen, wie man wollte. Wir hatten eine dualistische Regierungsform. Der Kaiser galt als zu heilig, um sich mit schmutzigen Kriegsgeschäften zu befassen. Er verwaltete auch nichts mehr. Er war ein Symbol, und fertig. Symbole haben nichts zu sagen, sie haben nur zu sein. Es war der militärische Lehnsadel, der im Namen des Kaisers regierte und dabei trivial an den eigenen Profit dachte.«
    Â»Wie überall auf der Welt, ach ja, ach ja.«
    Sie nickte und sprach weiter.
    Â»Jeder Fürst hatte sein Heer und natürlich auch seine Geheimagenten. Weil alle Provinzen ihre Grenzen abgeriegelt hielten, gab es nur wenige Berufsstände, die sich frei bewegen durften: Ärzte, Apotheker, Hebammen und Masseure, die meistens blind waren. Diese waren entweder blind geboren, oder man hatte ihnen als Kriegsgefangenen die Augen ausgestochen.«
    Â»Warum mussten Masseure blind sein?«
    Â»Weil sie schöne Frauen und attraktive Männer berührten. Sie sollten nicht in Versuchung geraten.«
    Â»Logisch!«, seufzte ich.
    Â»Auch Musiker, Schauspieler, Puppenspieler, Wanderpriesterinnen
und Bettelmönche zogen frei umher. Und, siehst du?, viele dieser Leute, die man nicht zu den Bürgerlichen und auch nicht zu der Kriegerkaste zählen konnte, waren ›Windmenschen‹. Wir entzogen uns der landesüblichen Rechtsprechung, immer geschickt an der Illegalität vorbei. Wir waren auch nicht durch strenge Sitten- und Ehrenkodexe gefesselt. Jeder Clan hatte seine eigenen Losungsworte, seine besondere Zeichensprache. Wir standen im Dienst der Fürsten. Bezahlten sie uns gut, war auf uns Verlass. Säbel durften wir nicht tragen, das war das Vorrecht der Kriegerkaste. Wir hatten andere Waffen, die unauffällig und wirksam waren. Und die Apotheker und Heiler wussten, welche Pflanzen dem Leben und welche dem Tod dienten.«
    Auch die Borgia trugen Ringe mit Gift, das sie ihren Feinden in den Weinkelch träufelten. Che vino é generoso  … und der Feind verschied unter furchtbaren Verrenkungen! In diesen vermeintlich wilden Zeiten agierte man noch fantasievoll, auch wenn unlängst der bulgarische Geheimdienst mit vergifteten Schirmspitzen gefuchtelt hatte. Heute war ja alles scheinheiliger. Herr Nobel kam in den Himmel, weil er zuerst den Sprengstoff erfand und gleich danach den Friedenspreis stiftete. Der mit Vorliebe jenen Politikern verliehen wurde, die sich Herrn Nobels Erfindung einst ausgiebig zunutze gemacht hatten.
    Â»Morden ist keine Kunst mehr«, monierte ich düster. »Nur noch Industrie und Showbusiness. Ach ja, ach ja!«
    Dass Mia sich nicht ablenken ließ, hatte etwas Behagliches an sich. Ihre Stimme klang nach wie vor ungerührt.
    Â»Innerhalb der ›Windmenschen‹ gab es Hierarchien. Die niedrigste Rangstufe bekleideten die Schauspieler, die höchste die Ärzte. Aber da waren noch andere Rangfolgen. Ganz oben stand die Priesterkaste, korrupt bis in die Knochen, aber unantastbar. Und fast gleichrangig waren die
Zimmerleute. Früher kannte man in Japan keine Architekten. Alle traditionellen Wohnhäuser waren aus Holz. Die Zimmerleute bauten jedes Gebäude mit eigenen Händen. Der Meister war zugleich der Architekt. Und so ist es auch nicht weiter verwunderlich, wenn mein Vater stolz auf seine Ahnenreihe blickte. Er sah sich nicht als einziger Mensch, sondern als Teil der langen Kette von Vorfahren. Sie waren die richtigen Künstler, sein Großvater

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