Tochter des Windes - Roman
und sein Vater waren es auch noch. Und das, was er selbst machte, war vergleichsweise unzureichend.«
»Urteilte er da nicht zu hart?«
»Er wählte die Ahnen als Vorbild und war von sich selbst enttäuscht. Er sagte, er sei nur ein Schatten, ohne feste Form.«
»Wie meinte er das?«
»Er hatte ein Problem mit seinem Image. Nach abgeschlossenem Ingenieurstudium hatte er sich vom Innenministerium ködern lassen. StraÃenplanung und Parkanlagen, solche Sachen. Er bezog ein gutes Gehalt, aber es wurmte ihn noch im Nachhinein. Bis die Entwürfe zum Einsatz kamen, vergingen unter Umständen Jahre. Dazu musste er sich an das Konkordat halten. Vater war permanent frustriert. Er nannte die Beamten âºFossileâ¹ und gehörte selbst dazu. Er hatte eine starke Seele: Sogar in seinem Humor klang immer eine Spur von Selbstverachtung, wusste er doch nur zu gut, dass es kein Zurück gab. Die Kette war zerbrochen.«
»Seit wann?«, fragte ich.
»Um ganz genau zu sein, seit 1868, als Kaiser Mutsuhito ins Wespennetz griff und die Umwandlung Japans in ein modernes Industrieland einleitete. Wir nennen diese Periode âºSchlossuntergangâ¹. Die Shogune wurden abgesetzt. Die Aristokraten verloren ihre Privilegien und ihr Vermögen. Sie mussten ihre Dienerschaft entlassen. Aber die Dienstboten gehörten zur Familie und weigerten sich zu gehen. Und so
lebten alle in Armut, litten mit trockenen Augen und lachten diskret, auch wenn sie am Verhungern waren.«
»Warum ergriffen sie keinen Beruf ?«
»Dazu waren sie nicht fortschrittlich genug. Sie hatten ja nicht einmal die Schule besucht. Dutzende von Privatlehrern hatten sie in Schönschrift, in Dichtkunst, in den feierlichen Gebräuchen der Teezeremonie oder in anderen geistbildenden Beschäftigungen unterrichtet. Was sollten sie damit anfangen ? Sie waren auch viel zu versnobt, um zu ertragen, dass Leute aus niedrigerem Stand  â aber mit Universitätsabschluss  â sie herumkommandierten. Es gab Aristokraten, die ihre Schlösser in Brand steckten, damit sie nicht Spekulanten in die Hände fielen  â die ihnen viel Geld dafür gezahlt hätten! Andere verübten Selbstmord, um den Geist der Vorfahren nicht zu blamieren. Sie waren ganz einfach in die falsche Zeit geraten. Der Qualm der Fabriken verpestete die Luft, die Hässlichkeit der Industrie griff um sich. Die Aristokraten waren Träger einer höchst verfeinerten, aber nicht mehr erwünschten Kultur. Sie hatten ausgedient. Die âºWindmenschenâ¹ auch. Ihre Erfahrungen waren nutzlos geworden. Aber sie sind nicht vergessen. Immer wieder kommen sie in der Literatur vor, in den Filmen und im volkstümlichen Theater. Oder als Comic-Figuren in den Mangas, die jeder in der U-Bahn liest. Dazu kam noch, dass nach dem Zweiten Weltkrieg die Amerikaner etwas aus Japan mitnehmen wollten. Sie fanden die âºNinjaâ¹ recht lustig und machten aus ihnen amerikanische Actionhelden. Es gab sogar die âºNinja-Schildkrötenâ¹! Tante Azai fühlte sich sehr beleidigt. âºWas fällt diesen Leuten alles ein!â¹ Ihr waren solche Persiflagen zuwider. Es lag ihr viel daran, die Fabel zu bewahren.«
Es kann ja sein, dachte ich, dass die Fabel nicht abgeschlossen ist. Noch hatte ich den Inhalt nicht begriffen, nichts sah ich vor mir, nur lose geheftete Bruchstücke. Tante Azai hütete
ein Geheimnis. Aber ich wusste nichts von den Gestalten, die das Geheimnis ins Leben gerufen hatten. Es war in Tante Azai verborgen, und sie lebte durch diese inwendige Kraft.
Inzwischen war es dunkel geworden. Durch die gläserne Haut der Fenster funkelten Lichter wie ferne Sternenhaufen, und die Scheinwerfer der Schiffe zogen phosphoreszierende Pinselstriche durch die Finsternis. Mia hatte zu viel geredet, sie war müde und erstickte ein Gähnen. Ich küsste sie, und sie schlang beide Arme um meinen Hals, dann um meine Hüften. Liebe ist etwas sehr Einfaches, fast Banales. Aber kann ein Geheimnis angesichts der Liebe noch irgendeinen Wert besitzen? Und so sprachen wir nicht weiter darüber, nicht an diesem Abend und auch nicht in dieser Nacht.
19. Kapitel
M utter hatte bisher nur spärliche Lebenszeichen von mir erhalten. Es wurde Zeit, dass ich mich mal wieder vor den Computer setzte.
Du willst wissen, wie es mir geht und wie ich mich in Japan zurechtfinde. Ich will dir zunächst von Mia
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