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Tochter des Windes - Roman

Tochter des Windes - Roman

Titel: Tochter des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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anderen Dokumenten in der Sakristei aufbewahrt. Es handelte sich um einen Bauplan, mit Fußnoten in lateinischer Schrift. Der Plan zeigte den Grundriss einer Burg mit Mauern und Wallgraben, aber mit einer eindeutig europäischen Kuppel. Das Ganze sah aus wie eine Kirche und widersprach allem, was Letzel über japanische Architektur zu wissen glaubte. Er hatte sich eingehend mit unserer Bauweise befasst, und zwar in Hinblick auf die Gefahr der Erdbeben, die ja auch Italien und Südeuropa nicht verschonten. Gebäude aus Stein und Mörtel wurden dabei zerstört. Unsere alten Bauwerke nicht. Sie waren ja aus Holz.«
    Â»Wieso ist Holz so widerstandsfähig?«, wollte ich wissen.
    Â»Weil Holz elastisch ist und sich jeder Erschütterung anpasst.«

    Letzel machte sich Sorgen, sagte Mia, weil Japan, ganz im Trend, zunehmend auch eine westliche Bauweise einführte.
    Â»Warum?«, fragte ich.
    Mia zog die Schultern hoch.
    Â»Alles, was neu und modern war, fanden wir toll.«
    Â»Das ist schon so«, meinte ich. »Modische Denkschwächen verleugnen die Empirie.«
    Das räumte Mia ein.
    Â»Wir dachten nicht mehr an den Katzenfisch.«
    Â»Wie bitte?«
    Sie lachte ein wenig.
    Â»Ach, ein Märchen erzählt, dass unter den japanischen Inseln ein riesiger Katzenfisch lebt. Bewegt er den Schwanz und schüttelt er die Flossen, kommt ein Erdbeben.«
    Â»Und was war mit der Schriftrolle?«, fragte ich.
    Diese Schriftrolle ging auch ihr nicht aus dem Kopf.
    Â»Letzel sah sich den Bauplan an und erkannte mit einem Blick die Machbarkeit des Gebäudes. Der Abt erzählte dazu eine lange Geschichte. Offenbar hatten Jesuiten die Schriftrolle aus Japan mitgebracht.«
    Im sechzehnten Jahrhundert war es Spaniern und Portugiesen voller missionarischem Eifer und wirtschaftlichen Hintergedanken gelungen, Südamerika zu erobern. Aber an Japan, einige Jahre später, hatten sie sich die Zähne ausgebissen.
    Â»Du musst den Rahmen im Kopf haben«, sagte Mia. »In dieser Zeit regierte bei uns die mächtige Tokugawa-Dynastie, die den jeweiligen Befehlshaber, den ›Shogun‹ stellte. Die Tokugawa hatten ihren Sitz in Edo, dem späteren Tokio. Der Kaiser selbst residierte in der alten Hauptstadt Kyoto und hatte machtpolitisch nichts zu sagen. Die Tokugawa-Fürsten fanden die Missionare recht nützlich und unterhaltsam. Bis ihnen die christliche Lehre zu erfolgreich wurde und sie den
Aktivitäten der Nanbanjin und der Keto einen Riegel vorschoben.«
    Ãœber die japanische Geschichte hatte ich mich informiert, sah aber längst nicht klar. Ich war nicht einmal in der Lage, gewisse Namen zu behalten. Das musste erst geübt werden.
    Â»Was sind Nanbanjin ?«, fragte ich. »Und was sind Keto?«
    Sie lachte.
    Â» Nanbanjin sind ›südliche Barbaren‹. Und Keto ›behaarte Fremde‹.«
    Â»Schade«, seufzte ich. »Schade, dass die Indianer sie als Götter verehrt haben!«
    Â»Götter hatten wir bereits in Fülle, die saßen auf jedem Baum.« Mia amüsierte sich. »Natürlich hätten die Nanbanjin gerne ihr Know-how durchgesetzt, indem sie Einfluss auf die Fürsten nahmen. Aber das funktionierte nicht. Wir hatten ein ausgeklügeltes Herrschaftssystem, eine Mischform aus Zentralregierung und lokaler Verwaltung. Wir hatten Gesetze. Und Beamte, die pingelig die Gesetze befolgten. Dazu kamen an die 20 Feudalherren, die den Titel Daimyo führten und sich aufs Heftigste bekämpften. Die Tokugawa-Herrscher tolerierten das Spinnennetz, sorgten aber dafür, dass die Daimyos politisch kleingehalten wurden. Daneben war die Gesellschaft in vier verschiedene Stände aufgeteilt. Aber das solltest du wissen, Rainer. Hast du im Unterricht gut aufgepasst?«
    Ich nickte mit gewichtigem Ernst. Doch, das hatte ich.
    Â»Erstens«, sagte ich und zählte an den Fingern auf. »Die Kriegerkaste der Samurai. Zweitens: die Bauern. Die Bauern hatten den Reis zu ernten und die Feudalherren, denen das Land ja gehörte, reich zu machen. Sie selbst blieben arm. Drittens: die Handwerker. Für sie galt: Schuster, bleib bei deinen Leisten! Sie durften keinen Beruf außerhalb ihrer Kaste ausüben. Viertens: Die Händler, zugleich verachtet und gefürchtet,
weil sie Reichtümer anhäuften und an Einfluss gewannen, während die Samurai verarmten.«
    Â»Oh ja«, sagte Mia. »Sie verhungerten mit

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