Tochter des Windes - Roman
Kopf.
»Eine merkwürdige Mischung. Weder Buch noch Tagebuch. Ich bin nicht einmal sicher, ob das, was sie schreibt, wahr ist oder nicht. Es gibt auch keine chronologische Folge. Und sie hatte offenbar vor, ihre Memoiren  â wenn man sie so nennen kann  â zu vernichten. Sie sollten nicht in fremde Hände geraten.«
»Es tut mir leid«, sagte ich, »ich wollte wirklich nicht indiskret sein â¦Â«
Mia bewegte lebhaft die Hand hin und her.
»Mach dir keine Gedanken. Sie hätte die Hefte ja mitnehmen können.«
»Sie hat vielleicht einfach nicht mehr daran gedacht?«
»Nein, nein! Sie ist nicht vergesslich. Ich nehme an, sie war sicher, dass niemand die Hefte finden würde.«
»Worüber schreibt sie denn?«
»Ãber Leute, die ich dem Namen nach kenne, weil meine Eltern auch von ihnen sprachen. Aber Tante Azai beschreibt sie aus einem ganz anderen Gesichtspunkt.«
»Und Jan Letzel?«
Sie sah mich mit groÃen runden Augen an, spieÃte eine Bratkartoffel auf und verfehlte ihren Mund. Die Bratkartoffel fiel zurück auf den Teller.
»Oh ⦠oh ⦠entschuldige!«
»Soviel ich mich entsinne«, sagte ich, »bist du seinetwegen nach Prag gefahren â¦Â«
»Ja, aber die Reise war unbefriedigend.«
Es gab mir einen leichten Stich. Ich streichelte ihre Hand.
»Aber in Prag haben wir uns doch kennengelernt. War das nicht eine Entschädigung?«
»Oh ja, natürlich!«, rief sie schuldbewusst.
»Sprich weiter«, sagte ich.
Sie lächelte etwas krampfhaft.
»Entschuldige, Rainer, ich ⦠ich muss nachdenken! Tante
Azai war ⦠ist immer noch eine sachliche Frau. Aber diese Geschichte ist einfach unglaublich!«
»Hat die Geschichte mit Letzel zu tun?«
»Was ich gelesen habe, ist so hirnverbrannt!«
»Du machst es spannend«, sagte ich.
Sie lehnte sich zurück, mit beiden Händen auf das Sitzkissen gestützt.
»Also, hör zu! Bevor Jan Letzel nach Kairo ging, hatte er eine Studienreise durch die Balkanländer gemacht: Bosnien, Dalmatien, Montenegro. AnschlieÃend besichtigte er Florenz, Siena und Assisi. 1907 schiffte er sich nach Japan ein, wo er für ein französisches Architekturbüro Pläne entwarf. Später gründete er dann sein eigenes Büro in Tokio. 1921, ein Jahr vor dem groÃen Kanto-Erdbeben, das Tokio zerstörte, war er Handelsattaché an der tschechischen Botschaft. Ehrenamtlich, versteht sich. Er hatte Tuberkulose, wie du weiÃt, und kam zufällig in die Praxis meines UrgroÃvaters Yoshiaki, um sich behandeln zu lassen.«
Ich hörte zu, war aber mit meinen Gedanken weit weg.
»Das war kein Zufall.«
Sie runzelte die Stirn.
»Was denn sonst?«
Ich blieb ihr die Antwort schuldig. Mia spieÃte eine Bratkartoffel auf die Gabel. Es sah aus, als schmecke es ihr vorzüglich. In Wirklichkeit wusste sie kaum, was sie aÃ, und legte ihre Gabel wieder hin.
»Um es kurz zu machen: Letzel und mein UrgroÃvater freundeten sich an. Tante Azai schreibt, dass Chimako, ihre Mutter, sich wunderte, denn Yoshiaki schenkte seine Freundschaft keineswegs jedem. Doch er hatte einen feinen Instinkt für Menschen, und nach einigen Monaten war es, als ob Letzel zur Familie gehörte. Azai nannte ihn Onkel Jan.«
»Moment!«, unterbrach ich sie. »Wie alt war sie denn?«
»Sie wurde dreizehn. Ihre Schwester Tomoko  â meine GroÃmutter, wie du weiÃt  â hatte ja mit sechzehn geheiratet. Und ihr Bruder Matsuo, der kleine Nachzügler, wurde noch von einem Kindermädchen betreut. Azai erinnert sich an alles. Bilde dir nicht ein, dass ihr Gehirn verkalkt wäre.«
»Ich bilde mir überhaupt nichts ein.«
»Und später wollte sie nicht, dass das Dokument irgendwelchen Historikern in die Hände fiel und auf Nimmerwiedersehen in einem Ministerium verschwand. Weil dieses Dokument ganz wesentliche geschichtliche Fakten durcheinanderbringen würde, verstehst du?«
Ich starrte sie an.
»Kein einziges Wort, tut mir leid. Von welchem Dokument redest du?«
»Von der Schriftrolle!«
Ich dachte an meinen Traum. Mich überlief es kalt.
»Welche Schriftrolle?«, fragte ich.
»Letzel zeigte Azais Eltern eine alte japanische Schriftrolle, die er in Montenegro gefunden hatte. In einem orthodoxen Kloster. Die Schriftrolle wurde mit
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