Tod am Kanal
Jäger. »Aber wo ist das Paddel
geblieben? Friedrichstadt ist von Wasser umgeben und von Grachten durchzogen.
Im Norden die Treene, im Süden die Eider. Westersielzug, Alter und Neuer Hafen.
Rundherum ist Wasser. Da bietet es sich an, ein Mordopfer mit einem Boot zu
transportieren. Ein Kanu ist leise, man hört es kaum. Außerdem kann ich mir
vorstellen, dass in Friedrichstadt nachts Ruhe herrscht. Da ist man vor
Entdeckung fast sicher, zumal die Straßen durch romantische Laternen und nicht
durch helles Neonlicht ausgeleuchtet werden.«
Christoph unterbrach das Gespräch, um sich auf den
Gegenverkehr zu konzentrieren, bevor sie von der Bundesstraße Richtung
Friedrichstadt abbogen.
»Wir sollten trotzdem die Bevölkerung fragen, ob
jemandem ein Kanu aufgefallen ist. Und weiterhin können wir vermuten, dass der
Täter sein Opfer nicht weit durch die Gegend geschleppt hat. Das bedeutet …«
»… dass der Tatort auch irgendwo am Wasser liegen
muss«, fiel ihm Große Jäger ins Wort. Dann seufzte der Oberkommissar. »Mann,
bin ich froh, dass Ina Wiechers an der Eider und nicht in Hamburg ermordet
wurde. Überlege dir einmal, wie viele potenzielle Tatorte es dort gegeben
hätte. Ich habe noch eine Idee.«
Christoph schmunzelte. »Lass mich raten. Wir sollten
uns zuerst das Areal des Eidergymnasiums ansehen. Schließlich grenzt es ans
Wasser.«
Große Jäger hielt Christoph die flache Hand hin, die
der abklatschte. »Du musst hartnäckig bleiben, Christoph. Immer schön üben.
Dann wird aus dir bestimmt auch irgendwann einmal ein Kriminalist. Die ersten
hoffnungsvollen Ansätze sind vorhanden.«
Christoph war von der Hauptstraße abgebogen und
steuerte den Wagen über das rumpelige Kopfsteinpflaster des Städtchens.
Inzwischen war der Ort aus dem Dornröschenschlaf des frühen Tages erwacht, und
Touristen bevölkerten die Straßen und Gassen.
»So idyllisch das auch sein mag, mich würden die
vielen Besucher stören«, sagte Große Jäger. »Du bist bei gutem Wetter ja nicht
mehr allein.«
»Das ist der Preis dafür, dass die Menschen im
norddeutschen Gegenstück zu Rothenburg ob der Tauber wohnen«, antwortete
Christoph mit einem schelmischen Lächeln und steuerte den Kombi im Schritttempo
über den Markt und die steinerne Bogenbrücke. Die Gracht lag wieder friedlich
im Sonnenlicht. Nichts erinnerte daran, dass hier vor wenigen Stunden eine
Leiche gefunden worden war. Sie verließen am Holmer Tor das Zentrum, fuhren am
Gelände der Grund- und Hauptschule vorbei und hielten kurz darauf vor dem
Schulhof des Eidergymnasiums.
Eine Gruppe von drei Schülern, sie mochten die fünfte
Klasse besuchen, belagerte einen Papierkorb und stritt sich lautstark, während
einer der Jungen mehrfach gegen den Abfallbehälter trat. Sie blickten kurz auf,
als sich die beiden Beamten näherten. Dann trat der Junge ein weiteres Mal zu.
Die Schüler unterbrachen ihr Palaver, als Große Jäger bei ihnen stehen blieb.
Er griff den, der gegen den Behälter getreten hatte, am Schulranzen, zog ihn sanft
zur Seite und sagte: »Lass mich auch einmal.« Dann trat der Oberkommissar gegen
den Korb, ohne ihn dabei zu beschädigen.
»Eh, was soll das?«, fragte einer der Knaben erstaunt.
Große Jäger grinste. »Ihr macht das doch auch.« Er sah
den jugendlichen Übeltäter an. »Das macht mir noch mehr Spaß als dir. Hast du
‘ne Ahnung, warum?«
Der Junge schüttelte ratlos den Kopf.
»Wer bezahlt das Ding, wenn es kaputt ist?«
»Die Schule«, riet ein zweiter Schüler.
»Wie? Euer Schulleiter blecht das von seinem
Taschengeld?«
Jetzt zeigte der Dritte ein kindliches Lachen und
hielt sich dabei den Bauch. »Sind Sie doof? Doch nicht vom Taschengeld.«
»Nun, irgendjemand bezahlt das doch. Seht ihr. Das
nennt man Steuern. Und die müssen eure Väter löhnen. Und wenn wir gemeinsam
ordentlich viel kaputt machen, ist das nicht weiter schlimm. Dann müssen eure
Väter eben mehr Steuern blechen. Ist doch geil, oder?«
»Das ist bescheuert«, stellte der Junge fest, der
zuerst den Papierkorb malträtiert hatte.
»Gut«, sagte Große Jäger und reichte den dreien
nacheinander die Hand. »Dann lassen wir alle es künftig sein. Okay?«
Die drei nickten zustimmend und trollten sich von
dannen.
»Du hast eine merkwürdige Art von Pädagogik«, sagte
Christoph, der dem Geschehen bis dahin schweigend gefolgt war. »Aber – sie ist
effizient.«
Die Eingangstür war im Unterschied zu ihrem ersten
Besuch nicht verschlossen. Sie klopften an
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