Tod am Laacher See
keine Antwort darauf, aber er beschloss, das Gefühl bis zur
Diagnose zunächst zuzulassen.
Wärmland erwischte noch den Zug um neun Uhr neunundvierzig.
Während der gesamten Rückfahrt grübelte er vor sich hin. Es waren quälend lange
Stunden im Zug. Er hatte nicht mal ihre Telefonnummer. Aber seine Karte hatte
er auf dem Küchentisch liegen lassen. Damit sie wusste, wie sie ihn erreichen
konnte. Und so hoffte er, bald von ihr zu hören. Aber der Morgen verlief
schleppend langsam, und er erhielt kein Lebenszeichen von ihr. Auch als er nach
beinahe sieben Stunden Fahrt um sechzehn Uhr sechsundvierzig in Koblenz ankam,
hatte er noch immer nichts von ihr gehört.
***
Um kurz nach siebzehn Uhr war Wärmland bei seiner Mutter, denn
sie hatten vereinbart, dass er mit ihr einige Einkäufe erledigen würde. Sie
fuhren wie üblich zu Rewe und Aldi auf der Moselweißer Straße. Nachdem sie
alles in die Wohnung gebracht hatten, machten sie einen Spaziergang an der
Mosel. Sie gingen vom Rhenania-Ruderhaus bis zur Staustufe. Ihr Gespräch drehte
sich wie üblich um verflossene bessere Zeiten und die Neuigkeiten aus
Moselweiß, insbesondere um Krankheits- und Sterbefälle. Um zehn vor sechs waren
sie zurück, und es gab Sahnekuchen mit Pfirsichstücken.
Danach gabelte Wärmland seinen Sohn auf, der mit seinen Großeltern
im Phantasialand bei Brühl gewesen war. Nachdem sie sich auf dem Weg nach Mayen
eine Weile unterhalten hatten, kreisten Wärmlands Gedanken wieder um die
eigenartige Begegnung mit Sandra, die ihm für einen kurzen Augenblick seines
Lebens eine gewisse Art von Geborgenheit geschenkt hatte. Wie ein hübscher
bunter Schmetterling war sie in sein Leben geflattert, um sich im nächsten
Moment wieder in eine Luftströmung zu erheben und davonzuschweben. Es war eine zarte
Andeutung dessen gewesen, was seine tiefe Sehnsucht stillen konnte. Aber was
kam nun?
Gerade hatte er diesen Gedanken gedacht, als ihre SMS eintraf: »Ich hoffe, du bist gut heimgekehrt! LG Sandra«, las Wärmland voller Freude. Weil
endlich das erhoffte Lebenszeichen gekommen war. Das ihm nun auch ihre
Handynummer verriet und ihn in die Lage versetzte, mit ihr Kontakt aufzunehmen.
Obwohl er noch fuhr, schrieb er sofort zurück: »Gut angekommen, mein
Sohn ist bei mir, schönen Abend und Sonntag, Gruß Jan«.
Auf diese Nachricht folgte keine Antwort mehr, und Wärmland schlief
sehr unruhig. Am Sonntagmorgen wurde er schon um kurz nach acht geweckt, weil
sein Handy eine neue Nachricht meldete: »Lieber Jan, du bist ein guter Mann,
und ich mag dich. Aber unsere Leben passen nicht zusammen. Deshalb ist es
besser, wir hören jetzt sofort auf, bevor es wehtut. Sei mir bitte nicht böse.
Alles Gute für dich. Sandra«.
Was ist nur los mit mir?, fragte sich Wärmland, als er spürte, wie
ihn wieder dieses ihm so vertraute Gefühl der Leere ergriff. Warum nur brechen
meine ersten, eigentlich doch schönen Kontakte so schnell wieder ab? Wann kommt
es endlich mal zu einem ganz normalen Kennenlernen und Verlieben wie bei
anderen Menschen auch? Seine Traurigkeit und seine Grübeleien wurden erst
unterbrochen, als Stefan aufwachte und fröhlich »Guten Morgen, Papa!« sagte.
Sie waren erst um zwanzig vor elf mit dem Frühstück fertig, und
entschlossen sich angesichts des grauen Morgens zu einem Ausflug ins Bonner
»Haus der Geschichte«.
Wärmland war überrascht, wie sehr sich sein Sohn für die Ereignisse
und Entwicklungen im Nachkriegsdeutschland interessierte. Er spürte deutlich
Stefans tiefe Betroffenheit bei den Filmausschnitten über die zerbombten Städte
und das Schicksal der Menschen in jener Zeit. Der Junge realisierte wohl zum
ersten Mal, dass eine derart umfassende Zerstörung nicht nur Bestandteil
irgendwelcher Videospiele war, sondern dass Menschen vor gar nicht allzu langer
Zeit tatsächlich in einer solchen Welt gelebt hatten. Wärmland war erleichtert
über die begründete Aussicht, dass nicht nur seine Generation, sondern
wahrscheinlich sogar die Generation seines Sohnes von einem eigenen
Kriegserleben verschont bleiben würde. Falls nicht irgendwelche
unvorhersehbaren ungewöhnlichen Umstände eintrafen.
In solchen Zusammenhängen musste Wärmland immer an Jugoslawien
denken, wo seine Patentante einst in den Siebzigern und Achtzigern in einem
scheinbar völlig friedlichen europäischen Land ihre Sommerurlaube verbracht
hatte. Eine kantige jugoslawische Holzflöte hatte noch lange als
Urlaubsmitbringsel im Wohnzimmer seiner
Weitere Kostenlose Bücher