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Tod am Nil

Tod am Nil

Titel: Tod am Nil
Autoren: Anton Gill
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die winzige Stichwunde unter der weichen linken Brust zu finden.
    »Ich habe Leute zum Palastgelände geschickt, die herausfinden sollen, aus welchem Haushalt sie stammt; aber das werden wir zweifellos bald sowieso erfahren.« Merymose war angespannt. »Der Aufschrei wird diesmal bis zum Himmel hinaufschallen. Ich muß den Mann finden, der das getan hat.«
    Huy bückte sich, um etwas aufzuheben, das zu drei Vierteln verborgen im dürren gelben Gras lag. Im nächsten Moment baumelte es an einer zerrissenen Kette in seiner Hand, und das Sonnenlicht blinkte matt darauf. Es war ein Amulett der Ischtar.

    Um die achte Stunde waren alle Medjays, die zum Palastgelände geschickt worden waren, wieder zurück. Niemand war als vermißt gemeldet, nicht einmal ein Dienstmädchen oder eine Sklavin, aber schon die Erkundigungen hatten Panik hervorgerufen.
    »Ist man sich dort auch ganz sicher?« fragte Huy.
    »Absolut. Ich würde mir hier keinen Irrtum erlauben, glaub’ mir«, antwortete Merymose knapp.
    »Vielleicht wurde eine Familie übersehen?«
    Sie hatten die Berichte der ausgesandten Medjay in der Halle der Heiler entgegengenommen, wo der Leichnam im Hof lag, vor Hitze und Fliegen durch feuchte Tücher geschützt, und darauf wartete, daß jemand Anspruch auf ihn erhob und ihn dann den Einbalsamierern übergab. Zur zwölften Stunde des Tages, als die Sonne westwärts wanderte und sich zum Horizont hinabsenkte, so daß endlich der Nordwind kühlende Linderung bringen konnte, war immer noch niemand gekommen.
    »Wenn wir sie jetzt nicht anschauen, werden wir keine Gelegenheit mehr dazu haben«, erklärte der Medjay-Heiler, der zurückgekommen war und die Leiche teilweise ausgewickelt hatte. »Ich habe die Augenwunden verbunden, aber die Verwesung hat schon eingesetzt. Wenn die Einbalsamierer sie morgen nicht holen, muß sie in die Kalkgrube.«
    »Ist es denn jetzt noch hell genug zum Arbeiten?« fragte Merymose. Er stand auf und ging zu dem Arzt hinüber, um die Tote zu betrachten.
    »Ja. Es wird noch eine Stunde dauern, bis Nut die Sonne verblassen läßt.«
    Merymose sah zu Huy herüber. »Ich denke, dann sollten wir anfangen.«
    »Und wenn ihre Familie auftaucht?« fragte der Arzt.
    »Dann werde ich es erklären«, sagte Merymose mit einem Selbstvertrauen, das er nicht empfand. Aber Untätigkeit wäre schlimmer als das Risiko, die Toten zu beleidigen.
    Ein leises Geräusch wie ein Seufzen kam mit dem Wind in den Hof. Merymose schaute in die schattigen Winkel und fragte sich, ob es der Ka des Mädchens sein mochte. Vielleicht hatte er etwas dagegen, daß man sich über seine alte Behausung hermachte, bevor die geziemenden Riten vollzogen worden waren?
    Der Arzt bedeckte Mund und Nase mit einem Tuch und winkte einen Gehilfen herbei; sorgfältig machte er sich daran, die Leiche auszuwickeln und hielt sie dabei in den Armen wie eine Mutter oder ein Liebender. Dann ließ er sie zurücksinken und förderte eine kleine Ledertasche aus seinem Gewand zutage, legte sie auf den Tisch, öffnete sie und nahm eine Auswahl von fünf feinen Feuersteinmessern heraus.
    »Keine Sorge«, sagte er halb scherzend, als er Merymoses Gesicht sah, »die Geister respektieren mich. Ich habe schon seit langem mit den Toten zu tun.«
    »Für den Tod dieses Mädchens bin ich verantwortlich. Ich hätte ihn verhindern müssen.«
    »Du hast getan, was du konntest. Die Toten kennen uns; sie wissen, was wir vermögen und was nicht.«
    Huy beugte sich schweigend über die Tote. Das junge Gesicht war schön gewesen. Eine hohe Stirn wölbte sich sanft nach hinten zu einem dichten Schopf von dunklem, gelocktem Haar. Sie hatte eine Adlernase, volle, sinnliche Lippen und ein stolzes Kinn. Die Zähne waren ungewöhnlich weiß, fest und regelmäßig. Er versuchte, sich Augen in den Höhlen vorzustellen, um dem Gesicht einen Ausdruck zu geben.
    Der Gehilfe hatte Fackeln am Kopf- und Fußende aufgestellt, und in deren Licht sah man die dunkle Haut des Mädchens.
    »Glaubst du, das ist ihre natürliche Farbe?« fragte Huy.
    Der Arzt kam zu ihm und schaute die Leiche an. »Nein, ihre Haut ist von der Sonne verbrannt«, sagte er schließlich. »Ich hatte es nicht bemerkt.«
    Huy hatte eine Hand der Toten ergriffen und strich mit dem Daumen darüber.
    »Fühle«, sagte er zu Merymose, der jetzt auch herangekommen war. Der Polizist sah, daß die Haut rauh war; die Fingernägel waren sauber poliert, aber eingerissen und abgebrochen.
    »Vielleicht im Kampf«, erwog der Arzt.
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