Tod am Zollhaus
nicht, Rosina», wiederholte sie nach einer kleinen Pause, «und auch wenn ich …», sie zögerte einen Moment, «… wenn ich fast seine Frau bin, weiß ich nicht, was er tun könnte, wenn er mitten in der Nacht, den Bauch voll Bier, in einen Streit gerät. Wahrscheinlich weiß er das nicht einmal selbst.»
Rosina schwieg. Sie konnte sich Jean nicht als Mörder vorstellen, nicht einmal mit dem Kopf voller Zorn oder dem Bauch voller Bier. Niemand wurde vom Bier so fröhlich wie Jean. Dann vergaß er alle tragischen Rollen, die er nüchtern zu Titus’ ständigem Ärger als einzig große Kunst erklärte. Dann wurde er ein wahrer Komödiant, der mit Grimassen, Sprüngen und frechen Liedern das Volk unterhielt, bis das grölende Gelächter die Stadtwache herbeirief.
Aber vielleicht hatte Jean das Geld verspielt, mit dem er die Gebühren für die Spielerlaubnis und die Miete für das Theater und die Zimmer bei der Krögerin bezahlen sollte. Vielleicht war er verzweifelt und hatte keinen anderen Weg gesehen, als dem Schreiber seinen Beutel wegzunehmen. Vielleicht hatten sie miteinander gerungen, und der Schreiber hatte ein Messer gezogen, das Jean ihm im Gerangel aus Versehen in den Leib gedrückt hatte. Rosina mochte es nicht, wenn in ihren Gedanken lauter Fragen ohne Antworten kreisten.
«Die Krögerin weiß nur den Klatsch, den sie auf dem Markt gehört hat», sagte sie und schob ihren Hocker zurück. «Vielleicht war alles ganz anders. Wir müssen mit Jean sprechen. Der Kerker in der Fronerei hat gewiss ein Fenster. Hat die Krögerin gesagt, für wen der Schreiber gearbeitet hat?»
«Für einen Kaufmann. Heimann. Oder Herrmann? Er hat das schönste Haus am Neuen Wandrahm, sagt die Krögerin. So einer spricht nicht mit Komödiantinnen.»
«Das werden wir sehen. Aber zuerst müssen wir mit Jean sprechen. Er weiß am besten, was passiert ist.»
«Wenn er sich erinnern kann», murmelte Helena düster. Sie kannte Jean besser als alle anderen.
«Es tut mir wirklich leid. Er war ein tüchtiger Schreiber und ein netter Bursche.»
Joachim van Stetten sah seinen Freund ernst an.
Claes Herrmanns seufzte.
«Danke, Joachim. Behrmanns Tod ist ein großes Unglück.» Er stand am Fenster und sah in den Regen hinaus. «Langsam glaube ich, was die Leute reden.»
«Was reden die Leute?»
Van Stetten griff nach der Portwein-Karaffe und füllte das Glas, das vor ihm auf dem großen polierten Eichentisch stand.
«Sie reden von einem schwarzen Stern, der über meinen Geschäften steht.» Er lachte freudlos. «Das ist natürlich Spökenkiekerei. Aber wer weiß? Vielleicht hat Gott endlich den Sünder in mir erkannt und will mich zur Strafe ruinieren.»
«Das ist doch Unsinn, Claes. Ohne dich gäbe es nicht das neue Haus auf dem Pesthof, die Orgel in St. Katharinen wäre stumm, viele Arme, die jetzt satt in ihren Betten liegen, würden hungern und frieren. Und bei deinen Geschäften bist du geradezu unangenehm ehrbar. Jeder hat mal eine Pechsträhne, das gehört zum Handel wie der Jäger zum Hasen. Nun bist du mal dran. Das geht auch wieder vorbei. Trink einen Schluck Port, dann wird dir besser.»
«Du hast wohl recht, Joachim.» Claes kam langsam und schwer auf einen Stock gestützt durch das Zimmer. Er nippte an seinem Glas.
«Ich sollte trotz allem dankbar sein. Niemand hat verstanden, dass mich die Fässer auf der Pier von St. Aubin nicht erschlagen haben. Ein Wunder, dass ich lebe. Mein Schutzengel hat besser aufgepasst als Behrmanns.»
«Du hattest Glück, einen guten Chirurgen und die beste Pflege.»
Claes nickte. Er erinnerte sich nicht an den Unfall. Als er nach zehn Tagen aus tiefer Bewusstlosigkeit erwachte und begriff, was mit ihm geschehen war, begannen die Wunden schon zu heilen. Anne St. Roberts saß an seinem Bett, blass und mit tiefen Ringen unter den Augen. Es dauerte noch Wochen, bis er gesund genug war, um nach Hamburg zurückzukehren.
Wenigstens war es ihm in jener Zeit gelungen, Paul davon zu überzeugen, dass Emily nicht ihn, sondern ihren Maler heiraten musste.
Van Stetten sah ihn lächeln.
«So ist es gut. Hast du neue Nachrichten aus Lissabon?»
«Die alten reichen mir völlig. Es scheint mir immer noch unfassbar, dass die Bark durch eine Explosion untergegangen ist. Stürme und Korsaren versenken ein Schiff, sogar ein Seeungeheuer wäre wahrscheinlicher.»
Joachim lachte. «Die Spökenkiekerei steckt dir doch noch im Blut, Claes. Ich finde eine Explosion gar nicht so
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