Tod am Zollhaus
sagte sie noch einmal und blieb stehen. «Es ist doch ein Hinweis. Irgend jemand will dem Kaufmann schaden. Das muss mittlerweile auch ein Blinder erkennen. Das Schiffsunglück, der Schreiber, nun der Mann aus Lissabon. War das Schiffsunglück nicht auch in Lissabon?»
Alle nickten.
«Du siehst aus, als würde dir die ganze Geschichte Spaß machen.»
«Spaß? Nein, Helena. Aber ist es nicht tatsächlich besser als jede Tragödie in Versen? Der Komödiant und der Kaufmann, die Suche nach dem Mörder.»
Sie begleitete ihre Worte mit einer kleinen, eiligen Scharade, verzog ihr Gesicht zur Narrenfratze, mimte den herablassenden Bürger und den mordlustigen Gauner. «Ach», rief sie schließlich und breitete lachend die Arme aus, «vielleicht ist dieses Unglück am Ende doch ein Glück. Es schadet Jean gar nichts, wenn er mal ein paar ungemütliche Tage abbrummen muss. Und wir machen eine wunderbare Komödie daraus, wenn das alles vorbei ist. Die Menschen werden sich um die Plätze schlagen. Sie werden jeden Preis bezahlen …»
«Du versündigst dich, Rosina», rief Gesine. «Hier geht es nicht um Verse, sondern um Menschen. Um Gottes Geschöpfe», fügte sie hinzu und schlug für einen Moment fromm die Augen nieder. «Und um uns. Ihr habt etwas vergessen. Haben die Leute nicht gesagt, Jean hätte einen Helfer gehabt, der die Goldstücke des Schreibers fortschaffte? Werden sie jetzt nicht sagen, dieser Helfer hat den Mann aus Lissabon überfallen? Und werden sie ihn nicht zuerst bei uns suchen?»
«Heilige Thalia», flüsterte Rosina, «daran habe ich nicht gedacht.»
Die glückliche Hoffnung auf ein schnelles und gutes Ende der unseligen Geschichte war davongeweht wie ein trockener Strohhalm im Wind.
«Wo sind eigentlich Lies und Titus?», fragte Sebastian in die düstere Stille.
Lies saß bei der Krögerin am Ofen, wie Rudolf zu berichten wusste. Sie besprach einige Warzen, die im Winter am Hals der Wirtsfrau gewachsen waren, und las ihr aus dem Satz ihres Mittagskaffees die Zukunft.
Wo Titus steckte, wusste niemand.
Elsbeth lebte schon fast ihr ganzes Leben lang im Hause Herrmanns. Als sie acht Jahre alt war, vielleicht neun, genau erinnerte sie sich nicht mehr, wurde sie vom Waisenhaus in den Neuen Wandrahm geschickt. Ein großes Glück für ein Kind, das niemandem gehörte.
Zitternd trat sie durch die Seitentür des großen Hauses in die Küche. Im Waisenhaus erzählte man schreckliche Geschichten von Kindern, die in den reichen Familien zu Tode geschunden wurden. Aber auch wunderbare von Zimmern, in denen es immer warm war, von eigenen Kleidern und Bergen von Milchklößen mit Zimt und Honig.
Doch ihre Angst mischte sich mit Hoffnung. Elsbeth war gewöhnt, hart zu arbeiten, und auch der Hunger, ihr ständiger Gefährte in der Nacht, konnte kaum schlimmer werden. Das Leben in einem so schönen Haus würde sicher nicht bitterer sein als in den verlausten Schlaf- und Arbeitssälen der tausend Waisenkinder nahe dem Schaartor.
Sie hatte Glück. Auch ihr neues Leben war nicht gerade ein Paradies. Aber sie musste nun nie wieder hungern. Sie hatte einen warmen Platz am Feuer, immer ein reines Kleid, und niemand schlug sie.
Die Köchin, die hagere, wortkarge Gerda, merkte schnell, dass dieses Kind, von dem niemand wusste, wer seine Eltern waren, einen wachen Verstand und ein Talent für die Küche hatte. Nach einem halben Jahr schickte sie nach einem anderen Kind, das auf die Feuer achten und den Schmutz hinaustragen musste. Elsbeth, kaum groß genug, um über den Küchentisch zu gucken, rührte nun die Soßen, lernte feine Kuchen zu backen, und der Kräutergarten gedieh unter ihren kleinen Händen wie nie zuvor.
Die Köchin lehrte das Kind alles, was sie selbst konnte. Als Elsbeth achtzehn war, starb Gerda in einem besonders nassen Winter am Fieber, und Elsbeth nahm ganz selbstverständlich ihren Platz ein. Sie trauerte lange um die strenge Frau, die ihr einen warmen Platz in der Welt gegeben hatte.
Elsbeth vergaß ihre hungrigen Waisenhausjahre nie. Sie erinnerte sich an die vielen Jungen und Mädchen, die in den stickigen Sälen immer blasser und magerer wurden, bis sie an der Schwindsucht, am Fieber, an der Cholera, an Masern und Diphtherie oder einfach an Mutlosigkeit starben. Nur die Zähesten überlebten, und sie wusste nicht, ob sie dazugehört hätte.
Das war mehr als dreißig Jahre her, aber Elsbeth, die absolute Herrscherin über Küche, Garten und Keller im Herrmanns’schen Haus, vergaß
Weitere Kostenlose Bücher