Tod am Zollhaus
Nicht die Mädchen und der Wein machten die Nächte in bezahlten Betten für den Captain so angenehm. Er fühlte sich dort einfach wohler als in einem Bürgerhaus mit seinen Regeln und strengen Ritualen.
Die Vermutung seiner Schwester, er meide den längeren Aufenthalt bei ordentlichen Menschen aus Furcht, doch noch auf den Geschmack am Familienleben zu kommen, war natürlich absurd.
Braniff hatte Hamburg erst einmal angelaufen, und das war viele Jahre her. Seine Häfen in Europa waren London und Bristol, Santander, Bordeaux und vor allem seine Heimatstadt St. Aubin auf Jersey. Und ab und zu Lissabon. Aber am wohlsten fühlte er sich an den Küsten der Inseln im Karibischen Meer. Irgendwann würde er sich dort niederlassen, auf Martinique vielleicht oder auf Hispaniola, der blühendsten aller Inseln.
Die Küsten von Virginia und Maryland gefielen ihm noch besser, und in einigen Jahren würde dort viel Geld zu verdienen sein. Aber diese puritanischen Neuengländer verdrängten immer mehr von der alten französischen Lebensart. Sie schienen ihm nicht die richtige Gesellschaft für ein angenehmes Leben.
Er schlenderte über die Brodschrangen, blieb auf der Zollenbrücke stehen und sah den Führern von zwei schwerbeladenen Schuten zu, die versuchten, ihre flachen Kähne aneinander vorbeizustaken. Die Flut hatte die Fleete gefüllt. Mit der nächsten Ebbe wurden die kleineren Fleete wieder zu seicht, und die Schutenführer beeilten sich, ihre Waren von den Schiffen im Hafen zu den Speichern zu bringen.
Braniff hörte dem Geschrei der Männer eine Weile zu. Er verstand Deutsch und Holländisch, und auch wenn ihr Dialekt ein wenig nach beidem klang, konnte er nicht heraushören, ob sich die beiden beschimpften oder sich gegenseitig bei ihrem Manöver halfen.
Als der Captain Herrmanns’ Haus am Neuen Wandrahm erreichte, pfiff er leise durch die Zähne. Gar nicht so übel. Er hatte sich eines dieser schmalen, hohen Häuser vorgestellt, in denen sich Familie und Geschäft auf engem Raum drängten, Wohnstuben und Lager kaum voneinander zu trennen waren und das offene Feuer in der Diele jedem Besucher das Aroma einer alten Schinkenwurst mit auf den Weg gab.
Aber die meisten Häuser in dieser Straße waren anders. In solidem Stein gebaut, verputzt und doppelt so breit wie die älteren Fachwerkhäuser in den engen Straßen zwischen dem Dom und St. Nikolai, zeugten sie vom Reichtum ihrer Besitzer. Das steinerne Portal und die doppelflügelige Tür des Herrmanns’schen Hauses waren reich mit Weinlaubgirlanden, Muschelschnitzereien und Blumenornamenten verziert. Über allem wachte eine Putte und sah einladend auf die Gäste dieses Hauses herunter.
Braniff kniff die Augen zusammen, der Hausspruch über dem Portal war schon ein wenig verwittert: ‹Facilis est repraehendere quam imitari.› Er kramte mühsam in seinen verschütteten Lateinkenntnissen: ‹Es ist leichter, zu tadeln, als nachzumachen.› Oder so ähnlich.
«Gefällt Euch mein Haus? Mein Großvater muss aus irgendeinem Grund ein schlechtes Gewissen gehabt haben.»
Missmutig betrachtete Claes den Hausspruch seiner Familie. «Habt Ihr schon auf mich gewartet? Bis um zwei ist in Hamburg immer Börsenzeit.»
Jules hatte sich nicht um die Zeit gekümmert. Auf See wusste er immer, wie spät es war, aber an Land versagte sein Zeitgefühl völlig. «Ich hoffe, es geht Eurem Mann aus Lissabon besser.»
«Ihr seid bemerkenswert gut informiert, Captain.»
«Nichts läuft so flink wie eine schlechte Nachricht.»
Claes nickte und öffnete die Tür.
Im Kontor herrschte große Unruhe. Tonbrinck, der nun Behrmanns Platz als erster Schreiber eingenommen hatte, stand mit den fünf anderen Schreibern am Kachelofen. Als Claes und Braniff eintraten, verstummten ihre aufgeregten Stimmen.
«Egal, was ihr gehört habt», schnauzte Claes, «Martin lebt. Es geht ihm nicht gut, aber ich bin sicher, er wird wieder ganz gesund. Und jetzt an die Arbeit. Oder habt ihr nichts zu tun?»
Grimmig schritt er durch das Zimmer der Schreiber und betrat sein Kontor. «Was ist das?»
Neben dem Schreibtisch stand ein Fass.
Bevor Tonbrinck erklären konnte, dass zwei Männer das Fass früh am Morgen geliefert hatten, schloss Braniff energisch die Tür. «Das ist ein Gruß von mir.» Mit beiden Händen strich er zärtlich über die dicken hölzernen Rundungen. «Unser gemeinsamer Freund Paul bat mich, Euch einige Fässer dieser Art zu bringen. Dieser besonderen Art. Als Probelieferung. Wenn
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